Verteidigung:Wo die Wölfe schnüren

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Seit Beginn des Ukraine-Konflikts verstärkt die Nato ihre Präsenz in Osteuropa. In Litauen übt auch die Bundeswehr den Kampf gegen Gegner, die im Manöver "die Roten" heißen. Und jeder weiß, wer gemeint ist.

Von Mike Szymanski, Pabradė

„Eiserne Wölfe“ im Nebel: Soldaten der Bundeswehr beteiligen sich nahe der litauischen Stadt Padrabė an einem Manöver der Nato. (Foto: Mindaugas Kulbis/AP)

Der Gegner ist nah. Nur sechs Kilometer vom Gefechtsstand entfernt hat er eine Stadt unter seiner Kontrolle gebracht. Der Gegenangriff steht bevor. Im Schutz eines Vorzeltes erklärt ein Kommandeur seinem Vorgesetzten, General Jörg Vollmer, wie er und seine Leute die Stadt zurückerobern wollen. Als könnten sie es nicht erwarten, wühlen sich draußen Panzer mit dröhnenden Motoren durch den vom Regen aufgeweichten Boden.

Kalte Herbstluft weht in das Zelt. General Jörg Vollmer, 62 Jahre alt, grauer Schnauzer, hat seinen Winterparka bis oben zum Hals geschlossen. Vollmer hört seinen Soldaten zu, wie sie in geschliffenem Englisch das Manöver auf einer Landkarte durchspielen. Sie erklären, wann sich welche Einheit zurückfallen lässt und wann welche zuschlägt. Als das Briefing beendet ist, sagt Vollmer: "Well done." Gut gemacht.

Die Bundeswehr trainiert zusammen mit Nato-Verbündeten für den Fall, der besser gar nicht erst eintritt: Russland greift nach Litauen.

Die Kulisse dieser Großübung ist mit Bedacht gewählt. Sie wird auf litauischem Boden abgehalten, tief im Osten des Landes, auf dem Truppenübungsplatz nahe der Stadt Pabradė. Von hier aus sind es nicht mehr allzu viele Kilometer bis zur Grenze nach Weißrussland. Im Westen grenzt Litauen an die russische Exklave Kaliningrad. Strategisch wichtig ist die Landverbindung im Süden zu Polen, ein nur etwa 100 Kilometer langer Korridor. Verlieren die Bündnispartner darüber die Kontrolle, kappt dies die Verbindung ins Baltikum.

Seit Tagen haben sich Soldaten schon in den Wäldern bei Pabradė verschanzt. Sie kauern im feuchten Moos, die Gesichter grün und braun angemalt, damit niemand sie so schnell entdeckt. Seit gut einer Woche läuft die Übung Eiserner Wolf. So heißt auch die gemeinsame Brigade der Litauer mit den Verbündeten. Manche Soldaten tragen einen zähnefletschenden Wolf als Abzeichen auf ihrer Uniform. Aber an den müden Augen im Wald lassen sich die Strapazen der letzten Tage ablesen. Allein die Simulation von Krieg geht an die Substanz.

Jörg Vollmer, 62, ist seit 2015 Inspekteur des Heeres. Der Generalleutnant, seit 41 Jahren Soldat, ist damit der höchste Offizier dieser Teilstreitkraft der Bundeswehr. (Foto: Peter Endig/dpa)

Während Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) in ihrer ersten Grundsatzrede kürzlich von mehr Engagement der Bundeswehr im fernen Asien und im afrikanischen Mali gesprochen hatte, kommt die Truppe - bislang wenig beachtet - in Litauen als Teil der Nato-Mission dem Wandel hin zur Bündnis- und Landesverteidigung bemerkenswert nah.

Vollmer ist Inspekteur des Heeres. Dem General unterstehen 60 000 Soldaten. Es sind vor allem seine Männer und Frauen, die sich gerade rückbesinnen müssen. In der Übung heißen die Gegner, die eingedrungen sind, nur "die Roten". Die Bundeswehr übt in einem Land, das sich als "Frontstaat" versteht. Zusammen mit Truppen aus anderen Staaten der Nato, jenem Bündnis, das der französische Präsident Emmanuel Macron jüngst für "hirntot" erklärt hat, das sich aber hier, an seiner Ostflanke, quicklebendig zeigt. Es ergeht der Befehl zum "Aufsitzen". Vollmer und sein Tross klettern in die Fahrzeuge. Es geht jetzt zu den Soldaten ins Feld. Der Marder wartet schon, ein Schützenpanzer.

Seit Russland 2014 die Krim annektiert hat, geht auch im Baltikum die Angst vor der nahen Großmacht im Osten um - was hat Moskau noch vor? Die Nato hat deshalb ihre Einsatzbereitschaft entlang ihrer Ostflanke mit neuen Truppenverbänden verstärkt und je ein multinationales Bataillon nach Estland, Lettland, Litauen und Polen entsandt. Damit keine "Missverständnisse" aufkommen, wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg das einmal formulierte. Vollmer drückt es so aus: Es gehe um die klare Botschaft, "dass die Nato nicht bereit ist, Grenzverschiebungen zu akzeptieren".

"Enhanced Forward Presence" heißt die Nato-Mission, von der Bundeswehr etwas ungelenk als "Vornepräsenz" bezeichnet. Die Nato hatte die Mission 2016 in Warschau auf den Weg gebracht. Dann ging alles sehr schnell, auch für die Bundeswehr. Sie führt den Nato-Verband in Litauen an, eine von vier internationalen "Battlegroups". Zur Zeit sind dort die Soldatinnen und Soldaten des Panzergrenadierbataillons 391 aus Bad Salzungen im Einsatz. Im Hauptquartier in Rukla sind etwa 550 Bundeswehrsoldaten untergebracht. Sie sind fest in die 1100 Soldaten starke Eiserner-Wolf-Brigade der litauischen Armee integriert. Alle sechs Monate rotieren die Bundeswehrsoldaten samt Ausrüstung, Soldaten kommen und gehen. So soll nicht gegen die Nato-Russland-Grundakte verstoßen werden, die sich gegen eine dauerhafte Stationierung von Nato-Kampftruppen in Osteuropa ausspricht.

Großbritannien führt den Kampfverband in Estland, Kanada den in Lettland und weiter südlich, in Polen, sind die Amerikaner im Einsatz. Auch eine 5000 Soldaten starke schnelle Einsatzgruppe der Nato steht bereit, die in diesem Jahr ebenfalls von Deutschland geführt wird.

Der Aufbau der Mission in Litauen, Nato-Mitglied seit 2004, gehört für Vollmer zu den größten Projekten in seiner Zeit als Heeresinspekteur. 2015 rückte er auf den Posten. Moskaus Vorgehen in der Ukraine bedeutete eine Zäsur auch für die litauische Armee. Sie war bis 2014 - wie die Bundeswehr - auf Auslandseinsätze fixiert und ebenso auf Schrumpfkurs.

Damals hatte Litauen etwa 13 000 Soldatinnen und Soldaten unter Waffen und nicht einmal ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung ausgegeben. Wie Landesverteidigung funktioniert, musste die Armee erst lernen. "Es gab in Litauen keine Verteidigungspläne in Richtung Osten", sagt Vollmer. Bei der Bundeswehr ist dieses Wissen aus Zeiten des Kalten Krieges teilweise noch vorhanden und es fließt gerade wieder zurück in die Truppe. In Litauen soll Vollmer in der Anfangszeit der Zusammenarbeit Sätze wie diesen von seinen litauischen Gesprächspartnern zu hören bekommen haben: "Sir, Sie wollen Brücken in die Luft jagen?"

Seither hat sich in Litauen vieles verändert. Heute umfasst die Armee 21 000 Soldaten. Das Land gibt zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aus - so wie von der Nato gewünscht. Die Wehrpflicht wurde wieder eingeführt. Das Land hält eine eigene schnelle Eingreiftruppe vor: 2500 Soldaten, die innerhalb von 24 Stunden einsatzbereit sein sollen. Im Feld kann Vollmer die Fortschritte begutachten. Der Marder hat ihn zu einer Stellung im Wald gebracht, die von den Norwegern gehalten wird. Die Litauer geben die Angreifer.

Bei der Übung in Pabradė üben die Einheiten das Verzögerungsgefecht, bei dem kontrolliert immer wieder Land aufgegeben wird, um den Gegner "abzunutzen". Vollmer spricht mit den Soldaten. Er will wissen, was gut läuft und was nicht.

Altes militärisches Gerät der Litauer aus Sowjetproduktion wurde ausgemustert, modernes wird nach und nach eingeführt. Aus Beständen der Bundeswehr hat Litauen unter anderem Panzerhaubitzen erhalten. In einem der größten Rüstungsvorhaben hat das Land 88 Boxer- Kampffahrzeuge aus deutscher Produktion angeschafft. Die deutsche Rüstungsindustrie kann kaum eine bessere Bühne für ihre Produkte bekommen als in den Ländern entlang der Ostflanke der Nato, wo gerade viel ins Militär investiert wird.

Die sechs Monate in Litauen sind nach Vollmers Einschätzung auch ein gutes Training für die Männer und Frauen der Bundeswehr. "Es hilft auch uns, wenn wir hier üben können", sagt der General. " Was die Landes- und Bündnisverteidigung betrifft, finden wir hier eine ideale Trainingsumgebung vor."

Nur, es macht sich niemand etwas vor: Sollte es tatsächlich zum Konflikt kommen, der Übermacht aus Russland wären die Nato-Truppen so schnell nicht gewachsen. Studien zufolge könnte Russland 78 000 Soldaten ins Feld führen. Dem würde die Nato kurzfristig nicht einmal die Hälfte an Kämpfern entgegensetzen können. Wegen dieses Ungleichgewichts gehen die Planungen längst weiter. Erstmals seit Jahrzehnten wollen die Amerikaner Anfang 2020 üben, eine Division nach Osteuropa zur Verstärkung zu verlegen. Allein 20 000 Soldaten werden dafür mit ihrem Gerät aus Amerika kommen. Deutschland wird dabei zur logistischen Drehscheibe.

Von einem Rückzug der Amerikaner kann jedenfalls in Europa kaum die Rede sein. Gerade in Polen haben die USA ihre Präsenz sogar noch verstärkt. Laut Europa-Hauptquartier der Amerikaner geben die USA heute fast doppelt so viel Geld wie noch 2017 für ihre Truppen aus, um Beschlüssen der Nato nachzukommen. Vollmer bestätigt die Anstrengungen: "Nach 2014 haben die Amerikaner ihr Engagement in der Region vervielfacht. Die Bindung an Europa ist immer noch da. Da gibt es keine Brüche", sagt er. An der Ostflanke, soll das heißen, ist auf die USA Verlass.

© SZ vom 22.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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