Verlorene Voten:Die Turbo-Stimme

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Wegen der Fünf-Prozent-Klausel verfallen bei jeder Wahl Millionen von Stimmen für kleine Parteien. Die Piratenpartei will jetzt eine pfiffige Änderung des Wahlrechts durchsetzen.

Von Heribert Prantl

Jede Wahl ist auch ein Stimmengrab; bei jeder Wahl fallen ungeheuer viele Stimmen unter den Tisch. Bei der jüngsten Bundestagswahl waren es 6,8 Millionen; sie waren für die dreißig Parteien abgegeben worden, die wegen der Fünf-Prozent-Sperrklausel den Einzug in den Bundestag nicht geschafft haben. Das ist so, als wären die Wähler eines der größeren Bundesländer überhaupt nicht zur Wahl gegangen.

Nach geltendem Recht ist es so: Sämtliche Stimmen für die Parteien, die die Sperrklausel nicht überwinden, bleiben der Sperrklausel wegen unberücksichtigt; sie verfallen. So ist das bei der Bundestagswahl, so ist das bei den Landtagswahlen. Ist das gerecht? Ist dieser Stimmentod vereinbar mit dem Grundsatz, dass jede Stimme den gleichen Wert haben soll? Die Sperrklauseln sind daher immer wieder infrage gestellt worden. Die Chancen für ihre Abschaffung bei Landtags- und Bundestagswahlen stehen aber schlecht, die größeren Parteien profitieren davon; und das Bundesverfassungsgericht hat sie immer wieder gebilligt - um der Stabilität der Demokratie willen, um die deutschen Parlamente vor totaler Parteienzersplitterung zu schützen.

Von Staatsrechtlern wird daher seit Jahrzehnten die Frage diskutiert, ob man diese Sperrklausel nicht "verfassungsnäher" gestalten könne: einerseits die Sperrklausel beibehalten, andererseits vermeiden, dass Millionen Stimmen verfallen. Funktionieren kann das mit einer sogenannten Ersatzstimme, auch Eventual- oder Nebenstimme genannt. Der Wähler hätte dann die Möglichkeit, zusätzlich zu seiner bisherigen Listenstimme, der Hauptstimme, hilfsweise eine zweite Listenstimme abzugeben - die nur dann zu berücksichtigen ist, wenn die mit der Hauptstimme gewählte Partei an der Sperrklausel scheitert. Bisher ist das nur in der juristischen Literatur diskutiert worden - kontrovers.

Jetzt wird zum ersten Mal ein Landtag darüber entscheiden: Die Piratenpartei, im Landtag von Schleswig-Holstein mit sechs Abgeordneten vertreten, hat kurz vor Weihnachten im dortigen Rechts- und Innenausschuss einen Entwurf zur Änderung des Landeswahlgesetzes vorgelegt, mit dem eine solche Ersatzstimme verfassungskonform eingeführt werden soll. Patrick Beyer, Rechtsexperte der Piraten, begründet das so: Mit einer solchen Ersatzstimme könnten die Anhänger kleiner Parteien ehrlicher und ohne Furcht vor einem Verschenken ihrer Stimme wählen und ihre "zweite Wahl" angeben. Gegner der Einführung einer Ersatzstimme sehen darin freilich einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl: Die Wahl sei nämlich bedingungsfeindlich. Der Wissenschaftliche Dienst des Landtags hat in einem Rechtsgutachten diese Frage offengelassen. Es könnte sich auch, meint er, um eine zulässige "systemimmanente gestufte Stimmabgabe" handeln.

Viel Aussicht auf Erfolg hat der Gesetzesantrag nicht; die großen Parteien sind nicht scharf drauf. Pfiffig ist er trotzdem: Die Stimmen würde mit zusätzlicher Geltungskraft aufgeladen. Der Vorschlag würde allerdings wohl dazu führen, dass noch mehr kleine Parteien entstehen - domestiziert von der fortbestehenden Sperrklausel.

© SZ vom 04.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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