Verfolgte Oppositionspartei:Zentrale dicht, Verhaftung droht

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Gegen fast alle Abgeordneten der kurdischen HDP wird ermittelt. Langsam macht sich Untergangsstimmung breit.

Von Mike Szymanski

Ist es eine Kapitulation? Ist es eine Kampfansage? Sechseinhalb Stunden haben Parlamentarier und Vorstandsmitglieder der kurdischen Partei HDP in Diyarbakır über die Zukunft beraten. Der Treffpunkt? Sah nach Rückzug aus. Diyarbakır gilt als Kurdenhochburg. Im Südosten des Landes ist die HDP zu Hause. Aber die Ortswahl hatte auch einen anderen Grund. Funktionären der Partei wird der Zugang zur Parteizentrale in Ankara verweigert. HDP-Sprecher Ayhan Bilgen erklärte am Sonntag, sie stehe unter Belagerung der Polizei. Wie ein politischer Fremdkörper, der nicht in die Hauptstadt des Landes gehört.

Büros der HDP wurden in den vergangenen anderthalb Jahren angegriffen. Sie wurden angezündet und mit in Blumensträußen versteckten Sprengsätzen ausgebombt. Die HDP überstand Anschläge auf ihre Kundgebungen. Keine andere Partei war im Wahljahr 2015 so unter Druck gesetzt worden wie die HDP von Selahattin Demirtaş. Aber jetzt erlebt man das erste Mal so etwas wie Untergangsstimmung.

Es ist Ayhan Bilgen, der am Sonntag nach der Sitzung verkündet, dass die HDP entschieden habe, den Parlamentsbetrieb vorerst zu boykottieren. Im Parlament Politik zu machen - war es nicht das, was die Partei immer wollte? Einen Beschluss solcher Tragweite zu kommunizieren wäre sonst Aufgabe von Demirtaş. Aber der 43-Jährige sitzt in U-Haft, ebenso wie die Co-Vorsitzende der Partei, Figen Yüksekdağ. Mit ihnen haben die Behörden etliche weitere Parlamentarier festgesetzt. Die Regierung verdächtigt sie, die verbotene Terrororganisation PKK zu unterstützen. Weil sich die Oppositionspolitiker im Zuge der Ermittlungen weigerten, ihre Aussagen zu machen, holte die Polizei sie ab. Der Beschluss, ihre Immunität aufzuheben, war im Mai im Parlament gefallen.

Twitter und andere Dienste funktionieren nicht oder selten

Mittlerweile stellt sich die Frage, wie arbeitsfähig die Oppositionspartei überhaupt noch ist. Demirtaş kann im Moment nur über seinen Anwalt kommunizieren. Er soll in ein Gefängnis nach Edirne im Westen der Türkei gebracht worden sein. Am Sonntag übermittelte der Anwalt eine Durchhalteparole: "Diejenigen, die glauben, dass wir uns in dieser Dunkelheit ergeben, sollen nicht vergessen: Ein einziges Streichholz, eine einzige Kerze reicht aus, um diese Dunkelheit zu erhellen." Im Moment sieht es noch düster aus. Den Festnahmen von gut einem Dutzend Parlamentariern am Freitag folgte eine weitere Welle am Wochenende - dieses Mal richtete sie sich gegen Parteifunktionäre. Gegen Demonstranten geht die Regierung mit Härte vor. Die Kritiker haben Mühe, sich überhaupt noch zu verabreden und über die Lage zu informieren. Twitter und Benachrichtigungsdienste im Internet funktionierten zwischenzeitlich gar nicht oder nur sehr eingeschränkt. Bislang fielen die Kundgebungen kleiner aus als erwartet. Aber die HDP gibt die Straße noch nicht verloren. Wie es weitergehen soll, will sie jetzt mit ihren Anhängern diskutieren und dazu "von Tür zu Tür" gehen, wie der Parteisprecher erklärte. Das passiert in einem Klima der Angst. Gegen fast alle Abgeordneten der HDP wird ermittelt. "Die Polizei kann jederzeit vor der Tür stehen", sagt der HDP-Abgeordnete Hişyar Özsoy. Seine Immunität ist auch aufgehoben. Die EU dürfe es nicht länger bei mahnenden Worten belassen. Er verlangt Sanktionen. Eine davon: das Einfrieren der Beitrittsverhandlungen mit der EU.

© SZ vom 07.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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