Veränderte Rolle:Der Bundespräsident als Verfassungsrichter

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Die verweigerte Unterschrift unter das Verbraucherinformationsgesetz zeigt Horst Köhlers neue Ambitionen.

Heribert Prantl

Nach der Wiedervereinigung gab es im Bundesverfassungsgericht zu Karlsruhe heftige interne Diskussionen darüber, ob man nun dem Beispiel der anderen Staatsorgane folgen und, wie Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung, nach Berlin umziehen solle. Das höchste Gericht blieb in Karlsruhe, wohl auch deshalb, um so seine Distanz zur Politik zu zeigen und seine Neutralität auch geographisch zu demonstrieren.

In die Berliner Lücke springt nun Bundespräsident Horst Köhler: Er versucht seine Kompetenz auszubauen, Gesetze zu prüfen, bevor er sie unterschreibt - und so aus dem Bundespräsidialamt ein kleines Bundesverfassungsgericht zu machen. Neben das Gericht, das einst der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee zum Hüter der Verfassung bestellt hat, stellt sich ein zweiter Hüter: der Bundespräsident.

Zwei Mal Unterschrift verweigert

Innerhalb weniger Wochen hat Horst Köhler zum zweiten Mal seine Unterschrift unter ein Bundesgesetz verweigert. Beim ersten Mal, beim Gesetz zur Privatisierung der deutschen Flugsicherung, ging es um das große verfassungsrechtliche Karo - um Kernfragen der Staatlichkeit, darum nämlich, welche Aufgaben Hoheitsaufgaben bleiben müssen.

Nun, beim Verbraucherinformationsgesetz (VIG), geht es um das kleine staatsrechtliche Karo - der Präsident moniert nicht den Inhalt des Gesetzes, das auf die Gammelfleischskandale reagiert und dem Verbraucher Informationsrechte gibt - die allerdings nur gegenüber Behörden gelten, nicht gegenüber den Unternehmen, was von Verbraucherschutzverbänden als höchst unzureichend kritisiert wird.

Der Bundespräsident moniert auch nicht das Zustandekommen dieses Gesetzes. Er spießt ein anderes Problem auf: Nach der Föderalismusreform, die am 1. September in Kraft getreten ist, darf ein Bundesgesetz gemäß Artikel 85 Grundgesetz den Gemeinden und Gemeindeverbänden keine Aufgaben mehr übertragen; das darf nur noch das Land.

Nun bestimmt aber Paragraf 1 Absatz 1 des VIG, dass jedermann Zugang zu einschlägigen Daten hat, die unter anderem bei Gemeinden und Gemeindeverbänden vorhanden sind. Verstößt das Gesetz damit gegen Artikel 85 Grundgesetz? Es war schon bisher die Aufgabe von Gemeinden, die für die Gesundheit des Verbrauchers und die Lebensmittelkontrolle wichtigen Daten zu sammeln und Akteneinsicht dann zu gewähren, wenn jemand seine Betroffenheit darlegen konnte.

Das VIG hat nun das vage Kriterium der Betroffenheit beseitigt, jeder Verbraucher gilt automatisch als "betroffen". Jeder hat also die Möglichkeit, wichtige Informationen bei der Gemeinde zu erhalten - über Produkte, deren Kennzeichnung, die Inhaltsstoffe und die Risiken, die von diesen ausgehen. Über solche Informationen verfügen zum Beispiel die Lebensmittelüberwachungs-, Veterinär- und Gesundheitsämter der Städte und Landkreise.

Es ist wohl richtig, dass mit dem neuen Gesetz auf die Gemeinden mehr Arbeit zukommt. Die Frage lautet aber, ob ihnen damit wirklich eine Aufgabe übertragen worden ist: Lebensmittelüberwachung oder Gesundheitsvorsorge war ja schon bisher ihre Aufgabe, schon bisher musste die notwendige Information gesammelt, schon bisher musste Akteneinsicht gewährt werden, jedoch begrenzt auf den Kreis "betroffener" Bürger.

Diese Begrenzung ist gefallen. Neu ist also nur der Umfang des Informationsrechts der Bürger gegenüber der Kommune. Ist damit eine ganz neue kommunale Aufgabe entstanden, wie der Bundespräsident meint? Der Deutsche Landkreistag und der Deutsche Städtetag haben Köhler zugestimmt, was nicht verwundert.

Es handelt sich zwar um eine schwierige Frage, deren Antwort nicht gleich auf der Hand liegt - die aber doch eher zum verfassungsrechtlichen Klein-Klein zählt, um eine Alltagsaufgabe des Bundesverfassungsgerichts also.

Mehr Prüfungskompetenzen

Dass der Bundespräsident sein Veto auf so kleine Streitfragen stützt, ist neu. Das zeigt, dass er seine Prüfungskompetenzen auszubauen gedenkt: Im ersten Jahr seiner Amtszeit hat er bei Fundamentalbedenken nur Zweifel geäußert, aber gleichwohl unterschrieben - so beim Flugsicherheitsgesetz, das in Entführungsfällen den Abschuss von Passagierflugzeugen erlaubte.

Die Verfassungswidrigkeit dieses Gesetzes war dann erst aufgrund einer Verfassungsbeschwerde der FDP-Politiker Gerhard Baum, Burkhard Hirsch und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger festgestellt worden. Köhler hatte also, wie sich dann in Karlsruhe zeigte, ein - wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde - eindeutig verfassungswidriges Gesetz unterschrieben.

Nun verweigert Köhler die Unterschrift wegen eines Bedenkens, das sich vergleichsweise als Petitesse darstellt. Das gehört offensichtlich zur neuen Rolle, die er sich beimisst. Der letzte Präsident, der sich ausdrücklich als Hüter der Verfassung sah, war der Reichspräsident der Weimarer Republik. Wenn Köhler seine Prüfungskompetenz noch weiter ausbaut und Karlsruhe nicht dagegen einschreitet, hätte Deutschland beim Hüten der Verfassung eine Doppelspitze.

© SZ vom 11.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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