USA und Europa:Kampf der Modelle

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Die Vereinigten Staaten von Amerika sind ein Dritte-Welt-Land, und in Europa versagt die politische Klasse - sagt der britische Historiker Tony Judt.

Andrian Kreye

Der britische Geschichtswissenschaftler Tony Judt leitet das Remarque Institute for European Studies an der New York University, das er 1995 gegründet hat.

Angela Merkel - noch als Oppositionsführerin - mit dem US-Präsidenten bei dessen Deutschlandbesuch im Februar 2005. (Foto: Foto: AP)

In den Vereinigten Staaten und England ist gerade sein umfassendes Werk Postwar - A History of Europe since 1945 erschienen. Judt gilt als einer der besten Kenner Europas unter den in Amerika lehrenden Zeithistorikern.

Aber so wie er darum die aktuellen Schwächen Europas besonders genau benennen kann, so weiß er aufgrund seiner vergleichenden Studien ebenso genau um die Kehrseiten des amerikanischen Erfolgsmodells.

SZ: Unter amerikanischen Linken verbreitet sich mehr und mehr die Ansicht, Europa könnte das beste Modell für eine Gesellschaft des 21. Jahrhunderts sein.

Tony Judt: Das ist richtig. Amerika und Europa sehen sich seit einiger Zeit verstärkt als konkurrierende Visionen, und immer mehr Amerikaner schauen bei ihrer kritischen Betrachtung Amerikas weniger in die Zukunft oder Vergangenheit der USA als vielmehr in die Gegenwart Europas.

SZ: Seit wann driften die beiden Kontinente so spürbar auseinander?

Judt: Ich habe das Remarque-Institute schon 1995, also mitten in den Clinton-Jahren, genau deswegen gegründet, weil ich das Gefühl hatte, dass sich Amerika und Europa voneinander weg bewegen, und dass junge Amerikaner keine Ahnung von Europa hatten oder auch davon, dass wir gemeinsame Interessen haben sollten.

Abgesehen davon haben wir die Generation der amerikanischen Außenpolitiker verloren, deren Weltbild von der Ära zwischen den vierziger Jahren und 1989 geprägt wurde.

SZ: Dann war Bush nur ein Katalysator, der ältere transatlantische Spannungen zum Ausbruch brachte?

Judt: Bush hat das alles enorm beschleunigt, weil er den Glauben, dass Europa nichts verstanden hat, zu einer amerikanischen Tugend erklärte. Jetzt haben Amerika und Europa zwei grundverschiedene Identitäten. Das ist mir in den 20 Jahren, die ich nun schon hier in Amerika lebe, noch nie so klar geworden wie nach dem 11. September. Sogar in New York.

Ich würde inzwischen sogar so weit gehen zu behaupten, dass Europa und Amerika nur durch den Unfall des Zweiten Weltkrieges zu einer Einheit namens Westen wurden, die von Pearl Harbor bis zum Mauerfall gehalten hat.

SZ: Sollten die beiden Kontinente ihre unterschiedlichen Identitäten und Interessen nicht einfach akzeptieren?

Judt: Sollten sie, aber das ist schwer.

SZ: Angela Merkel hat sich schon vor ihrer Wahl um eine Wiederbelebung der deutsch-amerikanischen Freundschaft bemüht.

Judt: Ich glaube, Angela Merkel verzerrt das Bild, weil sie ein Ossi ist. Ganz egal, ob sie die Tochter eines ostdeutschen Pastors nehmen oder einen polnischen Intellektuellen wie Adam Michnik oder einen Sohn der tschechischen Bourgeoisie wie Vaclav Havel - sie alle verbindet ein Instinkt, der eine Art Umkehrung des alten kommunistischen Instinktes darstellt. Beim Irak-Krieg konnte man das deutlich beobachten.

Im Osten gibt es diese instinktive Sehnsucht, an das Gute in Washington zu glauben und allen, die kritisch über Washington denken, unehrenhafte Motive zu unterstellen. Die Schlussfolgerung lautet stets, wenn man für Menschenrechte und Freiheit ist, muss man auch für die Invasion im Irak sein. Havel beharrte darauf, dass dies eine untrennbare Einheit sei, er müsse den Umsturz von Diktaturen grundsätzlich unterstützen, sonst verrate er die eigene Vergangenheit in Prag.

SZ: Das ist durchaus nachvollziehbar.

Judt: Im Falle von Merkel liegt dem allerdings ein politischer Stil zugrunde, der die Probleme durcheinander bringt. Wenn sie beispielsweise über die Türkei spricht, ist ihre Argumentation von einem eigenartigen Provinzialismus geprägt, der die größeren Zusammenhänge außer Acht lässt. Nicht nur in der Türkei sind die Leute fassungslos, dass jemand Kanzler werden kann, der die politischen Kosten der Nichtaufnahme der Türkei in die EU nicht begreift.

SZ: Was für Kosten wären das?

Judt: Das sind geopolitische Kosten, die damit beginnen, dass die Türkei dann eine Allianz mit Russland eingeht, bis hin zum Verlust des Einflusses im Nahen Osten. Dazu kommen die Kosten in der Türkei selbst, weil man das Land entweder zurück in die Arme der Militärs oder der religiösen Radikalen treibt. Das alles zu ignorieren, ist eine sehr kleindeutsche Art, über Politik nachzudenken.

SZ: Merkel ist aber für die nächsten vier Jahre die deutsche Kanzlerin. Und sie ist nicht die einzige ostdeutsche Figur unter den neuen politischen Herrschern.

Tony Blair und George W. Bush - eine Beziehung, die dem Briten nicht viel Sympathien in Europa eingebracht hat. (Foto: Foto: AP)

Judt: Ich glaube nicht, dass sie auf Dauer so provinziell bleiben können. Merkel bringt als erste ostdeutsche Regierungschefin zwangsläufig die Altlasten ihrer ostdeutschen Erfahrungen mit, zu denen auch dieser reflexhafte Pro-Amerikanismus gehört.

SZ: Liegt das nicht auch daran, dass sie in den USA einen Unternehmergeist sehen, den es in Europa so nicht gibt?

Judt: Das ist richtig, wobei man das positiv wie negativ bewerten kann. Sicher ist es in Europa schwieriger, einen Betrieb zu gründen, sicher wurden in Europa in den vergangenen 50 Jahren weniger neue Ideen entwickelt und sicher wurde weniger Geld aufgebracht, um aus solchen Ideen profitable Unternehmen zu machen.

Andererseits haben sich die Europäer von Norwegen bis Italien de facto auf einen Kompromiss eingelassen, bei dem sie geringere unternehmerische Möglichkeiten, aber ein höheres Maß an Sicherheit genießen, bei dem sie in größerer Abhängigkeit vom Staat leben, aber auch eine bessere Lebensqualität haben. Das lässt sich belegen - Europäer leben gesünder und länger.

SZ: Trotzdem ist das europäische Modell reformbedürftig.

Judt: Wenn davon die Rede ist, die europäische Wirtschaft zu reformieren, dann meinen wir damit meist, den Markt freier zu gestalten, die Rolle des Staates zu verringern, das Arbeitsrecht und die Arbeitslosengelder einzuschränken - mit anderen Worten, Europa nach dem amerikanischen Vorbild zu gestalten, weil wir meinen, nur so die Wachstumsziele erreichen zu können.

SZ: Aber waren nicht die Reformen in Großbritannien erfolgreich, weil man sich am US-Modell orientierte?

Judt: Diese Orientierung an der amerikanischen Marktwirtschaft verursachte enorme Kosten.

SZ: Zum Beispiel?

Judt: In Großbritannien wächst die Kluft zwischen Armen und Reichen stärker als in jedem anderen europäischen Land. Obendrein haben das Bildungs- und das Gesundheitswesen so gelitten, dass sie im Vergleich zu europäischen Alternativen als immer mangelhafter abfallen.

Aber auch die - sowieso etwas nebulöse - Qualität des britischen Gemeinwesens fällt ab. Man kann das natürlich als positive Entwicklung betrachten, weil es mehr Individualismus, mehr Initiative und auch bessere individuelle Chancen der wirtschaftlichen Entfaltung und der sozialen Mobilität gibt. Doch die negative Seite sind steigende Kriminalitätsraten und das Schwinden des Gemeinschaftsgefühls.

SZ: Die meisten Festlandeuropäer kennen Großbritannien vor allem durch ihre Londonbesuche, und da sieht man eine boomende Metropole mit wunderbaren Restaurants, großartigem Kulturprogramm und einem beneidenswert hohen Einkommensspiegel.

Judt: Alles, was sie gerade aufgezählt haben, sind meiner Meinung nach negative Aspekte, weil sie die Anzeichen eines Booms sind, an dem viele nicht teilhaben können. Gleichzeitig drängt sich eine relativ kleine Zahl von Menschen aus den oberen Einkommensschichten auf einem begrenzten Immobilienmarkt und erzeugt eine Marktblase, die die unteren Einkommensschichten von bezahlbarem Wohnraum ausschließt.

SZ: Die unfreiwillige Stadtflucht, wie man sie auch in New York beobachten kann.

Judt: Richtig. Sie müssen von London aus nur 50 Meilen nördlich fahren, dann sind sie schon in einer ganz anderen Welt. Die meisten Londoner vermeiden das ja nach Möglichkeit, bleiben in der Stadt und fahren im Urlaub nach Kontinentaleuropa, weil es nördlich der Metropole sehr viel Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung gibt, versagende Bildungsinstitutionen und das vollkommene Fehlen von Investitionen in öffentliche Einrichtungen.

Nun ist das noch nicht so schlimm, wie in den verarmten Landstrichen Amerikas, wie Großbritannien in letzter Instanz eben doch immer noch ein Sozialstaat ist, der ja keineswegs von Sozialisten eingerichtet wurde, sondern von 60, 70 Jahre alten Liberalen und Christdemokraten, die ihn in den Jahren zwischen 1945 und den Sechzigern als eine Art Versicherung gegen die Zustände der Zeit zwischen den Weltkriegen installiert haben.

SZ: Die europäischen Mittelschichten fürchten sich nun aber gerade davor, dass ein reformbedürftiger Sozialstaat und eine zunehmend verarmte Arbeiterschaft ihre soziale Sicherheit gefährdet.

Judt: Dabei hatte der europäische Sozialstaat die enorm wichtige Funktion, die Mittelschichten mit der Arbeiterschaft zu verschweißen. Die Vorteile für die Arbeiter liegen ja auf der Hand. Aber für die Mittelschichten war der Sozialstaat in vielen Aspekten sogar noch wichtiger, weil sie nicht mehr für Bildung, Gesundheit und öffentliche Dienste bezahlen mussten und so eine Kaufkraft entwickelten, die ihnen erlaubte, sich Urlaubsreisen und Luxusgüter zu leisten.

Das war auch der Grund, warum es Margaret Thatcher nie geschafft hat, das Gesundheitswesen oder den Nahverkehr so weit zu privatisieren, wie sie das eigentlich wollte, weil der durchschnittliche konservative Wähler vom Sozialstaat genauso abhängig ist wie der typische Wähler der Labour-Partei.

SZ: Aber ändert sich das nicht zunehmend? Gerade bei den oberen Mittelschichten, die unterstellen, dass ohne Freiräume für Unternehmergeist kein Weg aus der Krise führen kann?

Judt: Es ist aber nicht der Sozialstaat, der den Unternehmergeist oder die Produktivität oder das Wachstum bremst. Zu den vier wirtschaftlich erfolgreichsten Ländern der Welt gehören neben den USA laut einer Untersuchung des Davos World Economic Forum Norwegen, Dänemark und Finnland.

Es geht also nicht um den Sozialstaat, sondern darum, wie sich eine Gesellschaft damit arrangiert, weil der Sozialstaat in Dänemark beispielsweise viel weiter entwickelt ist als in einem nicht so effizienten Staat wie Italien. Das Grundproblem mit den europäischen Sozialstaaten ist, dass wir in den Parametern der fünfziger und sechziger Jahre gefangen sind, vor allem, was das frühe Rentenalter betrifft.

SZ: Also ist der europäische Sozialstaat doch reformbedürftig.

Judt: Auf alle Fälle, aber verschiedene Länder brauchen jeweils andere Reformen. Nehmen Sie Frankreich, wo man ganz sicher ändern muss, dass ein Angestellter der Eisenbahn mit 56 Jahren bei vollem Gehalt in den Ruhestand gehen kann. Das ist heutzutage kompletter Wahnsinn.

In Frankreich braucht man Reformen, damit Firmen junge Leute schneller einstellen, aber auch schneller wieder entlassen können. Man muss den Schutz vor Arbeitslosigkeit stabil genug halten, aber trotzdem ein gewisses Risiko zulassen.

In Finnland sind solche Reformen nicht nötig, weil das Arbeitslosenrecht dort gut funktioniert und das Rentensystem nicht demografisch überlastet ist. Die Abschaffung des Sozialstaates nach europäischem Modell ist jedoch ein gefährlicher Mythos, der politisch überhaupt nicht vertretbar ist.

Lange bevor man beispielsweise Deutschland oder Frankreich mit radikalen Reformen in New Jerseys verwandeln könnte, gäbe es massive politische Rückschläge. Da haben sie dann all die Gruppen wie den Flämischen Block, die Le Pens und Haiders.

SZ: Auf der anderen Seite tauchten die rechtsradikalen Parteien in den deutschen Wahlergebnissen vom November überhaupt nicht mehr auf.

Just: Die Unterschiede zwischen der radikalen Rechten und der radikalen Linken verwischen sich zunehmend. Beide profitieren von denselben Unsicherheiten. Der Zusammenbruch der kommunistischen Partei in Frankreich vollzog sich oft an denselben Orten, an denen Le Pen seine Erfolge feierte.

SZ: Genauso wie die deutsche Linkspartei ihre meisten Wähler dort rekrutieren konnte, wo früher die Rechtsradikalen erfolgreich waren?

Judt: In der Tat, dort wo die Neonazis funktioniert haben. Obwohl man da noch einen weiteren Faktor bedenken muss, weil diese Sorte populistischer Parteien in Europa nicht unbedingt an Orten mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten erfolgreich waren.

Der Flämische Block erzielte seine besten Ergebnisse von 38 Prozent in Antwerpen - in der reichsten Stadt in der reichsten Gegend auf dem reichsten Kontinent in der Weltgeschichte. Das sind die Mittelschichten mit ihrer Angst um die Stabilität.

SZ: Ist die Angst vor der Wirtschaftsmacht China oder dem inzwischen schon sprichwörtlichen polnischen Klempner nicht berechtigt?

Judt: Der polnische Klempner ist vollkommen irrelevant. In fünf bis acht Jahren werden die Gehaltsspiegel in Polen, der Slowakei oder Ungarn so weit gestiegen sein, dass die Lohnunterschiede kein Grund mehr sein werden, dass deutsche Firmen in die Slowakei investieren.

Und das ist auch der Grund dafür, warum die Wirtschaftswunder in den Ländern, die ein bulgarischer Soziologe als "Little Americas" bezeichnet hat, mit ihren minimalen Steuern und reduzierten Sozialleistungen, in denen jeder unter 30 glaubt, dass das alles ganz großartig ist, weil sie bald so leben werden wie in Kalifornien, eine sehr begrenzte Halbwertszeit haben.

SZ: Wird diese Länder ein ähnliches Schicksal ereilen wie die mittelamerikanischen Maquiladoraländer, die ihre Kunden an China verloren?

Judt: China ist ein ganz anderes Thema. Europa wird niemals mit China konkurrieren können, weil die Chinesen jedes Rennen nach unten gewinnen werden. Dort gibt es keine sozialen Einrichtungen, kein Arbeitsrecht, und die Kapazitäten und die Qualität der Produktion steigen kontinuierlich. In Deutschland und Frankreich sehe ich die Schuld an der Reformkrise eindeutig bei der politischen Klasse.

Da wurde nicht erkannt, dass die Entwicklungen der Demografie und der Haushalte es dringend nötig machen, die Sozial- und Arbeitspolitik vom Schutz von Arbeitsplätzen auf die Schaffung von Arbeitsplätzen zu richten. Wenn sich Europa doch nur seiner einzigartigen Lage bewusst wäre, denn die Bevölkerung ist dort viel besser ausgebildet als beispielsweise in den USA!

SZ: Die wichtigen und bekanntesten Universitäten sind aber in Amerika.

Judt: Natürlich sind die amerikanischen Forschungsuniversitäten phantastisch, darum bin ich ja auch hier und nicht in England. Im Vergleich mit Oxford haben die 50 besten amerikanischen Universitäten viel bessere Mittel, bessere Einrichtungen, bessere Bibliotheken. Aber unterhalb dieses Levels ist es eine Katastrophe, und da könnten die Europäer mit ihrem Bildungsstand locker konkurrieren.

Europa könnte eine Bildungsschicht schaffen, die Ideen, Wissen und Fertigkeiten in einem Maße generiert, das Amerika in eine prekäre Lage bringen würde. Amerika ist das wahre Drittweltland - mit einer unfassbar reichen, gebildeten und mächtigen Elite und einer zunehmend verzweifelten, verarmten, medizinisch unterversorgten, ignoranten und schlecht ausgebildeten arbeitenden Bevölkerung.

SZ: Wären die dringendsten Maßnahmen in Europa dann nicht Bildungsreformen?

Judt: Da gebe ich Ihnen vollkommen Recht. Das waren die verpassten Chancen der sechziger Jahre.

SZ: Als Musterbeispiel für den Aufbau einer funktionierenden Bildungswirtschaft gilt Irland.

Judt: Ja richtig, der "Keltische Tiger". Irland ist ein interessanter Fall, weil es gleichzeitig das richtige und das falsche Modell ist. Es besteht natürlich gar kein Zweifel daran, dass sich Irland innerhalb von nur einer Generation aus einem rückständigen Agrarland in eine postindustrielle Dienstleistungswirtschaft verwandelt hat, die junge Leute aus ganz Europa nach Dublin lockt.

Dahinter steht die Politik, gezielt staatliche Mittel in den so genannten Dienstleistungssektor zu lenken, das Bildungswesen auszubauen und eine Steuerstruktur zu schaffen, die vor allem Investitionen in Hi-Tech- und Innovationsbereichen anzieht.

Gleichzeitig haben die Iren die beiden großen Universitäten Trinity College und University College in Dublin als Magnet benutzt, um sowohl Akademiker als auch Geschäftsleute anzuziehen. Das alles hat wunderbar funktioniert. Aber - und das ist ein großes Aber: Das ist alles mit riesigen Summen aus Brüssel geschehen.

Die Europäische Union hat den Ausbau des Verkehrsnetzes unterstützt, örtliche Bildungseinrichtungen gefördert und der Regierung dabei geholfen, Arbeitslosengelder und Renten an Menschen zu bezahlen, die in plötzlich nutzlos gewordenen Berufen tätig waren.

Ein Phänomen wie das des "Keltischen Tigers" war also nur möglich, weil die angeblich so ineffizienten alten europäischen Wirtschaftsmächte mit Hilfe der angeblich so zerrütteten Europäischen Gemeinschaft Gelder in diese kleinen, armen, rückständigen Länder gepumpt haben. Was sie ja in gewissem Maße derzeit auch für die Slowakei machen.

SZ: Aber ist Irland nicht schon so stabil, dass es weiter funktionieren kann? Judt: Das wird sich zeigen. In den letzten fünf Jahren hat Irland sämtliche Transferzahlungen verloren, weil es mit der EU-Erweiterung nun nicht mehr zu den armen, sondern zu den überdurchschnittlich wohlhabenden Ländern gehört. Es muss jetzt also Gelder an Brüssel bezahlen, statt sie zu bekommen - gleichzeitig hat es enorme Verpflichtungen gegenüber dem alten Teil seiner Bevölkerung.

SZ: Ist nicht auch das ein Grund dafür, dass gerade die Wirtschaft in Krisenzeiten sehnsüchtig nach Amerika blickt?

Judt: Das sind doch nur alte Gewohnheiten, weil Amerika während des gesamten 20. Jahrhunderts das Vorbild für Wirtschaftsreformen war. Damals galt Amerika als Modell für alles, was eine moderne Gesellschaft ausmacht - im Guten wie im Schlechten.

Amerika war offen, gnadenlos entschieden, kosmopolitisch, aufregend und hat sich ständig verändert und entwickelt. Doch man darf nicht vergessen, dass die großen Veränderungen dort die Folge der Einwanderungswellen der dreißiger Jahre waren.

SZ: Amerika war doch schon immer ein Einwanderungsland.

Judt: Ich übertreibe jetzt etwas, aber fast jeder, der was im Kopf hatte und in Deutschland, Österreich oder Osteuropa die Nazis überlebte, ist irgendwie in Amerika gelandet. Und von denen haben ungefähr 80 Prozent entscheidende Rollen in den Universitäten, in der Musik, der Literatur und in den Künsten gespielt.

Dieser enorme Transfer intellektueller Ressourcen hat sich dann in den vierziger und fünfziger Jahren wiederholt. Hinzu kommt, dass die Sowjetunion 35 Jahre gebraucht hat, um sich von den Folgen des Zweiten Weltkrieges zu erholen, von denen sich Großbritannien sogar nie mehr erholt hat.

Dieser Kulturtransfer und wirtschaftliche Vorsprung haben aus Amerika für meine und Ihre Generation das aufregendste, modernste Land überhaupt gemacht. Aber wir leben immer eine Generation hinterher. Ich sehe dort heute weder solche kulturellen Innovationen noch die wirtschaftliche Begeisterung. Außerdem ist das politische System in ernsthaften Schwierigkeiten, und das sagen selbst Leute, die mit mir sonst nie einer Meinung sind.

SZ: Glauben Sie, dass die weltpolitischen Realitäten die neue deutsche Regierung in punkto Amerika zum Umdenken zwingen werden?

Judt: Ich glaube, dass es die europäischen Realitäten sein werden. Wenn Deutschland eine bedeutende Rolle in Europa spielen will, kann es sich nicht auf freundschaftliche Beziehungen mit Washington konzentrieren.

Das ist ja einer der Gründe, warum Blair mit seinen Ambitionen gescheitert ist, in Europa eine Führungsrolle zu übernehmen. Er hat verzweifelt versucht, mit seinem Image als Washingtonfreund und seinem Einfluss in Europa zu jonglieren, und hat dabei alles falsch gemacht. Seine Unterstützung des Irak-Krieges war eine strategische Katastrophe, Großbritannien wird dafür in Europa noch auf Jahre hinaus büßen müssen.

SZ: Deutschland sollte sich also auf Europa konzentrieren und dafür unter Umständen riskieren, seine Beziehungen zu Amerika zu vernachlässigen?

Judt: Ich glaube, eine solche Politik ist absolut entscheidend, weil Europa dringend auf eine deutsche Führungsrolle angewiesen ist, vor allem nach dem Einknicken Frankreichs als quasi natürliche Leitnation Europas.

In den deutsch-amerikanischen Beziehungen gibt es nichts, was nicht ein bisschen Vernachlässigung aushalten könnte. Aber wen gibt es in Europa im Moment außer Deutschland, das den alten Kontinent zu einem wichtigen Faktor in den internationalen Debatten machen könnte?

SZ: Müsste Europa nicht erst eine aktivere militärische Rolle einnehmen?

Judt: Die Europäer werden wahrscheinlich nie ihre sozialen Ausgaben, Bildungshaushalte oder Wirtschaftssubventionen in den Wehretat umleiten, so wie es Amerika tut. Aber das sollte auch nicht nötig sein. Europa stellt heute schon mehr Friedenstruppen als Amerika. Es fehlt weder an der Zahl der Soldaten noch an den technischen Möglichkeiten, sondern einzig und allein an der Logistik.

Europa hat immer noch nicht die Voraussetzungen geschaffen, die es braucht, um, sagen wir mal, 50.000 Mann in den Kosovo zu verlegen oder in den Libanon. Dabei müsste man sich nur in die Airbusfabrik nach Toulouse begeben und 20 dieser riesigen Transportflugzeuge bauen und dann noch 50 Transporthubschrauber, um die wir derzeit noch bei den Amerikanern betteln müssen. Da fehlt es am gemeinsamen Willen.

SZ: 20 Flugzeuge, das klingt trotz allem machbar.

Judt: Ich habe mir diese Zahlen nicht ausgedacht. Die hat das Center for Strategic Studies in London als Richtwert dafür ermittelt, was nötig wäre, um eine europäische Eingreiftruppe unabhängig genug zu machen, um ihr einen Handlungsspielraum zu verschaffen, in dem sie so ziemlich alles bewältigen kann, außer einen Krieg anzuzetteln.

Europa hätte vielleicht nicht den Völkermord in Ruanda verhindern können, doch das hätte Amerika aus den vergleichbaren Gründen auch nicht gekonnt. Aber den Jugoslawienkrieg hätten die Briten theoretisch sogar im Alleingang beenden können, nur ist das am mangelnden gemeinsamen Willen gescheitert. Und genau das meine ich, wenn ich vom Versagen der politischen Klasse in Europa spreche.

© SZ vom 7.12.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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