USA:100 Jahre Krieg um eine Idee

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Die demokratische Senatorin Tammy Baldwin demonstriert mit Parteifreunden in Washington gegen die Abschaffung von Obamacare. (Foto: Mark Wilson/AFP)

Nicht erst seit Obamacare streitet Amerika über Sinn und Unsinn einer staatlichen Krankenversicherung.

Von Sacha Batthyany, Washington

Seit dem Tag, an dem Obamacare verabschiedet wurde, dem 20. März 2010, sprechen die Republikaner davon, die nach dem früheren US-Präsidenten benannte Krankenversicherung wieder abzuschaffen. Dieser "Albtraum" müsse ein Ende finden, sagte Obamas Nachfolger Donald Trump am Montag im Weißen Haus. Und rief den Senat dazu auf, ein Gesetz zu unterzeichnen, das Obamacare endgültig auf den Scheiterhaufen der Geschichte verbannt.

Der Kampf gegen eine Krankenversicherung für alle ist aber nicht erst sieben Jahre alt, sondern dauert bereits mehr als ein Jahrhundert - so lange schon schlagen sich Befürworter und Gegner in den USA die Köpfe ein und verbraten Milliarden an Dollar, um die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Auch wenn sich die Formulierungen im Lauf der Zeit verändert haben, der argumentative Kern bleibt stets derselbe: Eine staatliche Krankenversicherung, so die Kritiker heute wie gestern, sei etwas zutiefst Unamerikanisches.

Um das Jahr 1910 begannen liberale Kreise in den USA erstmals, über die Einführung einer Krankenversicherung zu debattieren. Das Vorbild war Deutschland, das Land mit dem weltweit ältesten sozialen Krankenversicherungsgesetz. 1911 verabschiedeten die Briten ein nationales Versicherungsgesetz. In Amerika herrschte zu dieser Zeit Aufschwung und Optimismus, es war der Höhepunkt der sogenannten Progressiven Ära. "Die Idee einer Krankenversicherung gewann 1916 so richtig an Momentum", sagt die Historikerin Jill Lepore, Professorin in Harvard und Autorin des New Yorker, die sich mit dem Thema seit Jahren beschäftigt. "Im Parlament in Kalifornien wurde über eine Krankenversicherung debattiert. Man wollte den Arbeitern der Massenindustrialisierung einen Schutz bieten", so Lepore. Die Idee verbreitete sich in anderen Staaten und gewann Unterstützer im ganzen Land. Doch dann zogen die USA in den Ersten Weltkrieg, was den Kritikern ein Argument verschaffte - denn plötzlich galt die Idee einer universellen Krankenversicherung als "zu deutsch", so Lepore. Es war von der Germanisierung Amerikas die Rede. Die Angst ging um, Kalifornien könne "zu preußisch" werden. Die politische Rhetorik, zwar völlig aus der Luft gegriffen, wirkte: Die Gegenseite behielt Oberwasser, das Thema war vorerst erledigt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Präsident Harry Truman die Idee wieder auf, forderte eine Gesundheitsreform und die Einführung eines Krankenversicherungssystems für alle. Nun sprachen die Republikaner nicht mehr von Germanisierung, sondern von einer "sozialistischen Medizin". Eine staatliche Krankenversicherung wurde als erster Schritt zum Sozialismus verstanden, als Angriff auf die persönliche Freiheit. In Radiowerbesendungen, bezahlt von den Gegnern, hieß es, der "American Way of Life" sei in Gefahr. Die damals bekannte Lobbyfirma Whitaker & Baxter, Vorreiter im Geschäft der Politkampagnen, erhielt die Rekordsumme von einer Million Dollar, um gegen die Krankenversicherung mobil zu machen.

Die Argumente gegen eine Versicherung fußten meist auf einer Art Sozialdarwinismus

Nach dem Vorwurf, ein staatliches Versicherungssystem sei zu sozialistisch, hieß es auf den Höhepunkt des Kalten Krieges gar, es sei eine Erfindung der Sowjetunion. "Ob erst die Angst vor Deutschland und später vor den Kommunisten, die Rhetorik der Gegner blieb dieselbe und wirkt bis heute", so Lepore. Immer kam der Feind von außen, immer ging es um den Verrat an amerikanischen Werten, um die Beschneidung der individuellen Freiheit. Damals wie jetzt sei vor "einem Kollektivismus gewarnt" worden, so die Historikerin Lepore. Deshalb habe das Solidaritätsprinzip in den USA im Vergleich zu Europa einen derart schweren Stand: "Seit 100 Jahren wird mit allen Mitteln der Einflussnahme dagegen angekämpft."

Und wie vor 100 Jahren fußen die Argumente der Gegner auf einer Art Sozialdarwinismus. Der Stärkere soll überleben, sagte man sich früher in den USA. Heute heißt es, der Markt soll es halt richten. Dabei kann kein Gesundheitssystem der Welt marktbasiert funktionieren, denn das Prinzip von Angebot und Nachfrage hat in diesem Bereich keine Bedeutung.

Jill Lepore zufolge liegt es aber nicht nur an ihren Gegnern, dass die Krankenversicherung in den USA so unbeliebt ist. Sondern auch an den Befürwortern, die es bis heute nicht geschafft haben, den Menschen in einfachen Worten zu erklären, warum sie so wichtig ist. Dass in Amerika bis heute derart aggressiv über eine Idee debattiert werde, die allen Menschen ein besseres Leben ermögliche, so Lepore, sei nur aus dieser hundertjährigen Geschichte heraus zu verstehen. "Wie auch immer die Abstimmung am Dienstag ausgeht", sagt Lepore: dieser jahrhundertealte Kampf sei nicht vorbei.

© SZ vom 26.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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