Urteil von Fachleuten:Von vorschnell bis vertretbar

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"Es gibt wirklich noch sehr viele Unklarheiten", sagt Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Experten beurteilen Spahns Impfstopp recht unterschiedlich.

Von Werner Bartens

Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) will am Donnerstag entscheiden, ob und wie sich die Zwischenfälle beim Astra-Zeneca-Vakzin auf die Zulassung des Impfstoffes auswirken. In einer Pressekonferenz am Dienstagnachmittag betonte EMA-Direktorin Emer Cooke mehrmals, dass "die Vorteile einer Impfung mit dem Astra-Zeneca-Vakzin gegenüber möglichen Risiken weiterhin überwiegen" würden. Ebenso wie die Weltgesundheitsorganisation WHO sieht auch die EMA bisher keine Belege, dass die Thrombosen der Hirnvenen kausal auf die Impfung zurückzuführen sind. Doch während die WHO deshalb keinen Grund sieht, mit der Verimpfung des Astra-Zeneca-Vakzins zu pausieren, zieht die EMA den gegenteiligen Schluss.

Auf SZ-Anfrage äußerten sich verschiedene Experten zur gegenwärtigen Hängepartie. Auch unter ihnen ist umstritten, ob es richtig war, die Impfungen zu stoppen. "Es gibt wirklich noch sehr viele Unklarheiten", sagt Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko). "Derzeit gibt es niemanden in Europa, der genau weiß, was los ist, ob es sich also bei den beschriebenen Fällen um Koinzidenz oder Kausalität handelt." Die Europäer müssten schnell ihre Datenbasis aufarbeiten. "Die Aussetzung der Impfungen ist derzeit eine vertretbare Vorsichtsmaßnahme, die natürlich der Impfkampagne und dem Impfstoff schaden wird", ist Mertens überzeugt.

"Ohne Zweifel handelt es sich bei den jetzt gemeldeten Fällen mit Sinusvenenthrombose und Thrombozytopenie als auch bei den thromboembolischen Nebenwirkungen um sehr ernst zu nehmende Sicherheitssignale, die weltweit bekannt sein sollten und gründlich analysiert werden müssen", sagt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AKDÄ). "Aus meiner Sicht ist die Aussetzung der Impfungen mit dem Astra-Zeneca-Impfstoff aufgrund der sieben Fälle mit Sinusvenenthrombose und Thrombozytopenie aber vorschnell erfolgt."

"Damit werden sich nicht mehr viele Menschen impfen lassen", sagt der Fachmann

Ludwig hätte sich gewünscht, zunächst die Analyse durch den Ausschuss für Risikobewertung der EMA abzuwarten, ob der Impfstoff weiterhin verabreicht werden sollte. Vergangene Woche hatte sich der Ausschuss bereits vereinzelte Fälle von Thrombosen und Lungenembolien angesehen und war zu dem Entschluss gekommen, dass aufgrund der vorliegenden Daten kein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer Gerinnungsstörung und der Impfung mit einer besonderen Charge des Astra-Zeneca-Impfstoffs besteht.

Michael Kochen findet die Entscheidung zwar schwierig. "Ich habe aber Verständnis dafür, denn wenn nicht darauf eingegangen würde, hätte das auch verheerende Folgen für das Vertrauen", sagt der ehemalige Chef der Allgemeinmedizin an der Uni Göttingen. "Die reine Zahl der Nebenwirkungen ist zwar zu vernachlässigen gegenüber den Risiken durch Covid-19, aber die Gefahr ist nun mal in der Welt." In der Praxis werde das viele Menschen beunruhigen, die jetzt auf punktförmige Blutungen oder andere Symptome achteten. "Die Reputation des Impfstoffs von Astra Zeneca ist jetzt sowieso angeschlagen", sagt Kochen. "Damit werden sich nicht mehr viele Menschen impfen lassen, auch wenn er wieder zugelassen werden sollte."

Unabhängig davon, wie die Entscheidung der EMA ausfällt, ist die Akzeptanz in der Bevölkerung für eine Impfung mit dem Vakzin vermutlich dahin. Ob sich die Diskussion um den Impfstoff, der bereits wegen einer vermeintlich geringeren Wirksamkeit und der Diskussion um die Altersbegrenzung in die Schlagzeilen geriet, negativ auf die Impfbereitschaft auswirken wird, ist noch nicht abzusehen.

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