Mit Geld lässt es sich bekanntlich überall gut leben, aber vermutlich nirgendwo so angenehm wie in London. Kaum eine zweite Stadt bietet derart konzentriert derart viel Luxus für alle, die es sich leisten können: Indische Industrie-Moguln, russische Rohstoff-Krösusse und arabische Petro-Prinzen bevölkern gemeinsam mit dem nicht mehr so reichen, doch dafür alten britischen Adel und der sehr neureichen, aber dafür wenig feinen Banken- und Hedgefonds-Kaste Boutiquen, Nobelhotels, Nachtclubs und Glitzerpartys der Briten-Metropole.
Von einer Krise bemerkt man in diesen Kreisen nichts. An den Superreichen auf ihrem Spielplatz London sind nicht nur die ökonomischen Verwerfungen der jüngsten Zeit weitgehend spurlos vorbeigegangen, sondern auch die Auswirkungen des brutalen Sparprogramms, das die liberal-konservative Regierung unter Premierminister David Cameron dem hoch verschuldeten Land verordnet hat.
Anderswo mögen Hausbesitzer ihre Hypotheken nicht mehr bedienen können, doch die Preise für Penthouse-Apartments in Knightsbridge oder Kensington ziehen weiter kräftig an. Die Diamantenhändler in Hatton Garden, die Herrenausstatter in der Jermyn Street und die Nobellimousinen-Verkäufer an der Park Lane klagen nicht über schwindende Nachfrage. Und derweil Schatzkanzler George Osborne mit der einen Hand Sozialleistungen kürzt, lockt er mit der anderen Reiche aus aller Welt mit Konditionen ins Land, die den Finanzdirektor eines Schweizer Niedrigsteuer-Kantons vor Neid erblassen ließen.
London und der arabische Frühling
Dies ist der Hintergrund, vor dem man die Ausschreitungen quer durch die Elendsviertel der britischen Hauptstadt und in anderen Landesteilen betrachten muss. Wer sagt, dass sie überraschend ausgebrochen seien, lügt oder verleugnet die Realität. Denn hinter der glitzernden Fassade, die Großbritannien präsentiert, haben sich so viel Unmut, Ressentiments und Zorn angestaut, dass es nur eines Funkens bedurfte, um eine Explosion auszulösen. Die teilweise gewalttätigen Studentenproteste, die Kopf-ab-Rufe, mit denen Prinz Charles und Camilla von einer johlenden Horde empfangen wurden, ein Massenmarsch der Gewerkschaften - dies waren Anzeichen für den Sprengstoff, der sich angesammelt hat.
Es ist kein Zufall, dass kluge Beobachter eine Parallele zwischen den Volksaufständen im arabischen Frühling und den Straßenschlachten des Londoner Sommers ziehen. Die britischen Teens in ihren Kapuzenjacken mögen Bürger einer funktionierenden Demokratie sein, die sich zudem rühmt, die älteste der Welt zu sein. Doch von Wahlen versprechen sie sich nichts, denn auch die werden nichts an ihrer persönlichen Zukunft ändern. Diese stellt sich so trübe dar wie die Aussicht junger Menschen in Kairo oder Sanaa: Arbeitslosigkeit, Gelegenheitsjobs, staatliche Almosen, und vielleicht ein wenig Kleinkriminalität, um sich über Wasser zu halten. Die Botschaft für Britanniens Unterklasse könnte eindeutiger nicht sein: einmal arm, immer arm, und das gilt selbstverständlich auch für eure Kinder und Enkel. Ihr habt mehr Chancen, einen Sechser im Lotto zu tippen, als aus eurer Klasse auszubrechen.
Das macht aus den Unruhestiftern von Tottenham und Peckham keine soziale oder gar revolutionäre Bewegung. Wer Supermärkte abfackelt, Handy-Shops plündert und Polizisten mit Spitzhacken attackiert, handelt kriminell und muss wie ein Krimineller behandelt werden. Dennoch sind die Unruhen ein Indiz für eine breitere, tiefer sitzende Malaise. Schonungslos beschrieb es der konservative Daily Telegraph: "Ein Teil des jungen Britannien - die Messerstecher, die Schießwütigen, die Plünderer, die windigen Nichtstuer und ihr verängstigtes Gefolge - ist vom Klippenrand einer zerbröckelnden Nation gestürzt."
Lebenserwartung und Kindersterblichkeit auf Drittwelt-Niveau
Diese Nation aber zerbricht an ihren Widersprüchen und ihrer Ungerechtigkeit. In keinem anderen europäischen Staat ist die Ungleichheit derart zementiert wie im Königreich. Nach wie vor zählen Name, Familie und Geburtsort für Karriere und Beruf. Egal ob Politiker, Manager, Journalisten - sie gingen auf dieselben Schulen, studierten dieselben Fächer, sprechen dasselbe gepflegte Englisch, das ihnen im Elternhaus vermittelt wurde.
Professor Higgins würde noch immer seine Eliza Doolittle finden, nur dass sie heute vermutlich arbeitslos und alleinerziehende Mutter wäre. Zugleich aber gibt es Stadtteile in London und anderswo, in denen Lebenserwartung und Kindersterblichkeit Drittwelt-Niveau haben. Etwa 13 Prozent aller britischen Kinder leben in "ernster Armut", wie es ein regierungsamtlicher Bericht formulierte. Und eine Frage der Hautfarbe ist das längst nicht mehr: Britanniens Armut ist braun, schwarz oder weiß.
Ein rein britisches Problem sind die Krawalle dennoch nicht. Soziale Not gibt es überall in Europa, wo klamme Staaten knapsen und knausern müssen. Und überall sind es die Teenager und die Zwanzigjährigen, die den von der Nachkriegsgeneration in leichtfertiger Manier angehäuften Schuldenberg abtragen werden. Schon jetzt nennt man sie die Lost Generation, die verlorene Generation. Die Jugendlichen in London sind nur ihre hässliche Kehrseite. Aber verloren fühlen sie sich alle.