Unbekanntes China (1):Schanghais vergessene Kinder

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Um die Zukunft der Kinder von Wanderarbeitern kümmert sich die chinesische Regierung kaum. Sie sind auf private Helfer wie Song Shouyou angewiesen, der eine Schule für diese Unterprivilegierten gegründet hat.

Jakob Tanner, Schanghai

Sein Schicksal ist das Schicksal vieler Wanderarbeiter Chinas. "Wenn ich nur mehr Zeit für meine Tochter hätte", sagt Song Shouyou und lächelt bitter. Er trägt das vierjährige Kind auf dem Arm. Die Kleine hat traurige Augen.

Song Shouyou mit seiner vierjährigen Tochter: "Diese Kinder brauchen eine Zukunft." (Foto: Foto: Jakob Tanner)

Song arbeitet nicht auf einer der zahlreichen Baustellen in Schanghai, wie es mehr als drei Millionen zugereiste Chinesen tun. Nicht mehr. Er schiebt dennoch Zwölf-Stunden-Schichten - hier, an einer Schule für Wanderarbeiterkinder in einem Industriegebiet im Norden Shanghais. Es ist seine Schule.

Song steht auf dem Schulhof und beobachtet das Treiben der Kinder. Er ist Gründer, Direktor, Lehrer und Hausmeister in einer Person. Fast 500 Kinder sind unter seiner Obhut. Song lässt seine Tochter wieder los. Der Unterricht geht weiter, er muss die Klingel per Hand betätigen. "Diese Kinder brauchen eine Zukunft", sagt Song.

Eine Zukunft, um die sich die Regierung nur zögernd Gedanken macht. Allein in Schanghai leben mehrere hunderttausend Kinder, die mit ihren Eltern aus den rückständigen Provinzen in die große Stadt zogen, für die die staatlichen Schulen aber unerreichbar blieben.

Systematische Diskriminierung

Das strenge Hukou-System zur Haushaltsregistrierung ist Fundament einer systematischen Diskriminierung jener zugereisten Chinesen aus den Provinzen. Wer länger als drei Monate fern der Heimat leben will, braucht eine Aufenthaltserlaubnis.

Für diese wiederum braucht es Geld und gute Beziehungen. Beides haben die Wanderarbeiter und ihre Kinder nicht - und bleiben so in ihrer neuen Heimat weitgehend von Sozialleistungen wie ärztlicher Behandlung ausgeschlossen.

Seit ein paar Jahren bewegt sich der Apparat. Der Zugang zu staatlichen Schulen ist den Kindern von Wanderarbeitern nicht mehr prinzipiell verboten, scheitert jedoch meistens an den Schulgebühren und dem Widerstand der Schulen sowie der offiziell registrierten Schanghaier: Sie wollen schlichtweg nicht, dass ihr Nachwuchs Umgang mit Migrantenkindern hat. Songs Schule ist nicht legal. Doch die Behörden lassen ihn leise gewähren. Immerhin kümmert er sich um ein Problem, für das sie selbst noch keine Lösung haben.

Nach dem Schulabschluss in seiner Heimatprovinz Anhui hatte Song unbedingt auf die Universität gewollt. Doch seiner Familie fehlte das Geld. Er tat das, was viele Chinesen in seiner Situation tun: Er ging in die boomenden Städte, um Arbeit zu finden. Über Chengdu kam er nach Schanghai, wo er wie viele andere Wanderarbeiter auf einer Baustelle Arbeit fand. "Ich war ganz unten", sagt Song heute mit einem Lächeln.

Seine Hände sind gezeichnet von der harten Arbeit. Doch Song gab sich nicht ab mit seinem Schicksal. "Ich wollte und musste mein Leben ändern", sagt er. Er schaffte es auf die Universität, wenn er sie auch nicht mit einem angestrebten Bachelor-Abschluss beendete.

Doch das Schicksal der Wanderarbeiter und ihrer Kinder vergaß er nicht. "Anfangs sollte ich nur auf sie aufpassen", erzählt er von den Bitten seiner ehemaligen Arbeitskameraden. "Die Kinder lungerten ja nur herum, während ihre Eltern den ganzen Tag arbeiteten." Also begann er, Unterricht zu geben.

Seine erste Klasse hatte nicht mehr als 20 Schüler. Nach ein paar Wochen waren es schon mehr als 100. Heute sitzen knapp 500 Schüler im Alter zwischen sieben und 16 Jahren in den Klassenräumen. Seit kurzem gibt es eine Vorschulklasse. Der Jüngste in Songs Obhut ist vier Jahre alt.

Teilweise zu dritt an einer Schulbank sitzen die Kinder in den kleinen Klassenräumen. Zu den Fächern gehören Chinesisch, Mathematik sowie - bei den höheren Klassen - Englisch. Jetzt gibt es auch eine Schuluniform, doch nicht jedes Kind trägt eine. Selbst hier gibt es sichtbare soziale Unterschiede.

Lesen Sie auf Seite 2, wie deutsche Studenten Song Shouyou und die Kinder der Wanderarbeiter unterstützen ...

Song stellt einer Klasse von Zehn- bis Zwölfjährigen den ausländischen Gast vor. "Unser Freund kommt aus Deutschland", sagt er, "wer von euch kennt Deutschland?". Die Schüler lachen, alle heben die Hände. "Und woher kommt ihr?" Song fragt sechs, sieben Provinzen Chinas ab. Bei jeder Provinz melden sich Schüler.

Meike Grzenia: "Den Kindern geht es um Aufmerksamkeit, um Zuwendung." (Foto: Foto: Jakob Tanner)

Die Schule, die sie heute besuchen, kann nicht verbergen, mal ein heruntergekommener Bau gewesen zu sein. Das Gebäude in einem Industriegebiet im Norden Schanghais hat Lagerhallen, Schrottplätze und Lkw-Parkplätze als Nachbarn.

Es war in einem schäbigen Zustand, erzählt Song, als er sich an die Arbeit machte. Nur mühsam mit Hilfe der 300 Yuan (circa 30 Euro) Schulgeld, die er pro Jahr von jedem Schüler nahm, setzte er es instand.

Die Wände wurden verbessert und weiß gestrichen, die kleinen Zimmer bekamen neue Fenster. Nach einiger Zeit fanden sich weitere Lehrer. Einen wahren zweiten Frühling erlebte Songs Schule aber erst, als zwei Austauschstudenten aus Deutschland auf die Schule aufmerksam wurden.

"Zum Sommerfest in der Schule waren wir schon 40 Studenten"

Meike Grzenia und Timo Gemmecker studierten im vergangenen Jahr an der renommierten Schanghaier Fudan-Universität. Eine Dozentin erzählte den beiden von Songs Schule. "Schon beim ersten Besuch", sagt Meike Grzenia, "spürten wir: Den Kindern geht es um Aufmerksamkeit, um Zuwendung."

Auch Song war begeistert vom Engagement der beiden Studenten - und von der steigenden Motivation seiner Schüler, die nun viel fleißiger waren. Grzenia und Gemmecker schmissen ihre Uni-Kurse, verbrachten bald jeden Tag an der Schule und begannen, Englisch-Unterricht zu geben und Spenden zu sammeln.

An der Fudan-Universität machte das schnell die Runde. Weitere Studenten wollten ehrenamtlich unterrichten. "Zum Sommerfest in der Schule waren wir schon 40 Studenten", erinnert sich Meike Grzenia. Nachdem sich nach wenigen Wochen fast 100 Freiwillige meldeten, gründeten die beiden die "Fudan Foreign Student Volunteering Association".

Bis heute organisiert die Gruppe hauptsächlich den Englisch-Unterricht für die Wanderarbeiterkinder. Auch Meike Grzenia und Timo Gemmecker blieben nach ihrer Rückkehr nach Deutschland in Kontakt mit Song und planen einen Verein zur Unterstützung der Schule zu gründen - auch wenn sie nicht wissen, wie lange es die Schule noch geben wird.

"Die Behörden können aus fadenscheinigen Gründen die Schule schließen - von einem Tag auf den anderen", sagt Meike Grzenia. sei dem Wohlwollen der Obrigkeit ausgesetzt. Er müsse stets aufpassen, guanxi, gute Beziehungen zur Polizei zu pflegen, erzählt sie.

Schon fünf Mal hätten sie ihm die Schule geschlossen. Song selbst verschwieg uns diese Schwierigkeiten. Er will den Kindern Optimismus vorleben. "Ich habe es geschafft, mein Schicksal als Wanderarbeiter zu ändern", sagt er. "Diese Kinder sollen diese Chance auch haben."

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