Umfrage:Gewissensfrage

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Wie willkommen sind Flüchtlinge in Europa? Eine Untersuchung hat das in sieben EU-Ländern erkundet.

Von Christian Wernicke

Deutschlands Grenzen bleiben offen für Flüchtlinge - denn die Deutschen wollen es so: Drei von vier Bürgern sind weiter zur Aufnahme von Asylbewerbern aus Kriegsregionen bereit - mehr als alle europäischen Nachbarn. In keinem EU-Land, so belegt eine neue internationale Studie, zeigen sich die Menschen so bereitwillig und engagiert, Migranten aufzunehmen.

Die Gründe desdeutschen Sonderfalls erhellt eine neue Umfrage. Die Demoskopen des IFOP-Instituts in Paris haben in sieben Ländern die Stimmung gegenüber Flüchtlingen ausgeleuchtet. Den Auftrag gaben die "Fondation Jean-Jaurès", eine Stiftung, die Frankreichs Sozialisten nahesteht, sowie die "Europäische Stiftung für progressive Studien" in Brüssel.

Das Ergebnis ist eindeutig: Dank ihrer Wirtschaftskraft zeigen sich die Deutschen weitaus zuversichtlicher als Franzosen, Spanier oder Niederländer, die Aufnahme Hunderttausender bewältigen zu können. Und es gibt einen "Merkel-Effekt": Weil sie ihrer Kanzlerin vertrauen, breiten auch die Anhänger von CDU/CSU ihre Arme für Flüchtlinge aus, im Gegensatz zu Konservativen anderswo.

Sicher, es gären Zweifel. So offenbart eine (nur in Deutschland unternommene) Nachbefragung im Oktober, dass inzwischen 41 Prozent der Deutschen (statt 32% im September) verschärfte Grenzkontrollen und härtere Bekämpfung illegaler Einwanderung fordern. Auch wächst der Wunsch, die Flüchtlinge mögen "wieder zurückgehen, sobald es die Lage in ihrem Land erlaubt" (80% statt zuvor 72%). Das sei zwar "eine Verhärtung", urteilt IFOP-Chef Jérôme Fourquet. Aber, die Stimmung kippt noch nicht: Im europäischen Vergleich verharrt die deutsche Zustimmung zur Willkommens-Kultur "auf extrem hohem Niveau" (79% im September, 75% im Oktober).

Die sieben befragten EU-Völker lassen sich in drei Gruppen einteilen. Die bekennenden Gutmenschen: Mehr als drei Viertel aller Deutschen und Italiener sagen ja zu Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen in Europa. Ihnen gegenüber stehen die Ausgrenzer: Weniger als die Hälfte aller Briten (44%), Franzosen (46%) oder Niederländer (48%) befürwortet es, am Mittelmeer gestrandete Flüchtlinge bei sich zu begrüßen. Dazwischen stehen als gutwillige Zauderer Spanier (67%) und Dänen (57%).

Weder nationaler Reichtum, gemessen als Pro-Kopf-Einkommen, noch Geografie bestimmen die Unterschiede. Entscheidend ist das Gewissen: Mehr als alle stimmen Deutsche (79% im September, 76% im Oktober) und Italiener (68%) Prozent der Aussage zu, es sei "die Pflicht unseres Landes, Migranten aufzunehmen, die vor Krieg und Elend fliehen". Ähnlich äußern sich Spanier (67%) und Dänen (64%), dann folgen die Niederlande (61%), Frankreich (54%) und Großbritannien (54%). In den meisten Ländern stellen sich praktizierende Christen sowie Menschen über 65 Jahre überdurchschnittlich in die Pflicht zur Fremden-Liebe.

Deutlich sind die Unterschiede zwischen den politischen Lagern. Anhänger konservativer und rechter Parteien blicken deutlich skeptischer auf Flüchtlinge als die der Linken. In fast allen Ländern klafft zwischen Rot und Schwarz eine Bewusstseinslücke von gut 30 Prozentpunkten. Auf der Linken unterstützen mindestens zwei Drittel (Briten, Niederländer, Franzosen), bisweilen neun Zehntel (Italiener, Deutsche) aller Wähler die Aufnahme von Flüchtlingen. Sympathisanten der Rechten bleiben misstrauisch oder lehnen sie mehrheitlich ab - Großbritannien, Niederlande, Frankreich und Dänemark.

Eindeutige Ausnahme ist Deutschland: Die Differenz zwischen links und rechts liegt bei 18 Prozentpunkten. Nicht nur Linke, Grüne oder Sozialdemokraten (90%), auch 70 Prozent Christdemokraten und Christsoziale befürworten im September die Aufnahme der Flüchtlinge. IFOP-Direktor Fourquet deutet dies als persönlichen Erfolg der Kanzlerin. "Der starke Einsatz von Angela Merkel für die Migranten hat unbestreitbar seine Auswirkungen auf die Meinung der Wähler von CDU/CSU. " Der Demoskop vergleicht das mit seinem Heimatland: Mit 72 Prozent sei die Zustimmung unter CDU/CSU-Anhängern mehr als doppelt so hoch wie bei Frankreichs konservativen Republikanern (29 %).

Fourquet entdeckt einen zweiten "Merkel-Effekt". Bei der Nachfrage im Oktober sank die Hilfsbereitschaft der deutschen Linken um sechs Punkte (auf 84 %), rechts von der Mitte blieb die Lage stabil: 73 (vorher 72) Prozent waren für Offenheit. "Ihre Wählerbasis hält der Kanzlerin die Treue", resümiert Fourquet. Während in allen sonstigen EU-Ländern der Umgang mit den Neuankömmlingen die Gesellschaft spaltet, herrscht in Deutschland ein breiter, parteiübergreifender Konsens für die Begrüßung der Flüchtlinge.

"Heute viele, morgen noch mehr?" Erstaunlich ähnlich sehen alle sieben Völker die Gefahr, dass die Politik offener Grenzen ständig neue Flüchtlinge anzieht. Acht von zehn Briten, Franzosen und Italienern, aber auch sieben von zehn Dänen, Spaniern und Deutschen stimmen der Sorge zu, die Aufnahme vieler Flüchtlinge könne "wie ein Lockruf" wirken. Dieses Unwohlsein plagt auch die Deutschen zunehmend: Im September teilten es 69 Prozent, im Oktober 74 Prozent aller Bundesbürger.

Die Unterschiede bei den Ängsten machen die Wirtschaftskraft und das daraus erwachsende Selbstvertrauen. Als einzige in Europa glaubt eine Mehrheit der Deutschen (55%), die Zuwanderer würden die Wirtschaft ankurbeln. Alle anderen EU-Völker mutmaßen mehrheitlich das Gegenteil. Und 69 Prozent der Bundesbürger stimmten im September dem Satz zu, dass "unser Land die wirtschaftlichen und finanziellen Mittel hat, um Migranten aufzunehmen." In Merkel-Deutsch übersetzt: "Wir schaffen das!" Doch die Zuversicht wird brüchig. Im Oktober zeigten sich noch 59 Prozent Deutsche so optimistisch.

Neben ihnen glauben nur noch die Dänen, ökonomisch gerüstet zu sein für die Flüchtlinge. Ungefähr drei Viertel der Franzosen und Italiener bekunden, ihren Nationen fehlten die Mittel, die vielen Asylbewerber zu unterstützen. Beide Länder haben mehr als zehn Prozent Arbeitslose. Das ist die Regel: Je mehr Landsleute ohne Job sind, desto geringer die Hilfsbereitschaft. Das gilt mit zwei Ausnahmen. Trotz Rekordarbeitslosigkeit von 22,5 Prozent glaubt ein Drittel der Spanier, ihr Land habe genug Reserven für die Fremden. Umgekehrt die Briten: Auf der Insel sind nur 5,6 Prozent ohne Job - aber 60 Prozent der Befragten wähnen ihr Land überfordert.

Fünf der sieben Völker halten mehrheitlich das Stopp-Schild hoch: Désolé, scusi, sorry, rufen Franzosen, Italiener (je 63%) und Briten (60%), man habe "schon viele Ausländer", mehr seien "nicht möglich". Ähnlich stöhnen Niederländer und Dänen. Nur in Spanien und in Deutschland glaubt die Mehrheit, es sei noch Platz. Doch auch in der Bundesrepublik kippt das. Immer mehr Deutsche meinen, das Boot sei voll. Im September sagte dies nur jeder Dritte, im Oktober fast jeder Zweite (44%). Die Veränderung um elf Prozentpunkte in weniger als vier Wochen ist dramatisch.

Zeichnet sich ein Ende des deutschen Sonderwegs ab? Beim Blick nach vorn zumindest scheinen die Deutschen ihren Nachbarn bereits recht ähnlich zu sein. Gefragt, ob der Zustrom Hunderttausender Menschen aus Nahost und aus Nordafrika noch lange so weitergehe, mutmaßten zwei Drittel bis vier Fünftel, der Zustrom werde sich "ein bis zwei", gar "mehr als drei Jahre" so fortsetzen.

© SZ vom 28.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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