Ulrich Herbert:Überdruss am Liberalen

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"Die Rechte wird stärker, in einem Moment, in dem es Deutschland so gut geht wie nie" - der Historiker liest den Deutschen in den Zeiten der Flüchtlingskrise die Leviten.

Interview von Joachim Käppner

SZ: Sie haben in Ihrer "Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert" das Zeitalter der Angst beschrieben, in der späten Kaiserzeit: Angst vor Wandel, vor Verlust von Sicherheit, vor der Moderne. Erleben wir in der Flüchtlingskrise heute etwas Ähnliches?

Ulrich Herbert: Nur bedingt. Den Deutschen wird der Begriff der Angst seit jeher gern zugeschrieben. Als sich die Bundesregierung 1990/91 weigerte, am ersten Irak-Krieg teilzunehmen, war bei den Bündnispartnern auch gleich die Rede von "The German Angst", als Phänomen unserer Nationalkultur. Andererseits gibt es in der Tat manche Parallelen zwischen dem später Kaiserreich und der Bundesrepublik, weil Phasen rapider Modernisierung immer mit Irritationen und Unsicherheiten verbunden sind. Das ist aber keine deutsche Besonderheit.

. . . und die Bundesrepublik ist ungleich stabiler.

Natürlich. Sie hat in den vergangenen 25 Jahren nicht nur ihren Wohlstand vergrößert, sondern auch eine massive Liberalisierung erlebt. Das ist im Verhältnis der Geschlechter so, in der Kindererziehung, beim Strafrecht. Wenn man bedenkt, wie negativ noch in den Achtzigerjahren über Homosexualität gesprochen wurde! Wenn nun die CSU von Asylbewerbern die Achtung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften als ultimative Voraussetzung ihrer Integrationsfähigkeit verlangt, hat das schon etwas Komisches. Es wäre aber falsch, Ängste vor Einwanderung einfach als irrational abzutun: Es gibt ja tatsächliche, ernsthafte Probleme und die Sorge, dass sich der eigene Platz in dieser neuen Gesellschaft verändert oder verschlechtert.

Ähnliche Debatten hat es bei Einwanderungsschüben ja auch bei den "Gastarbeitern" in den Sechzigern und den Balkanflüchtlingen von 1992 an gegeben.

Wir haben seit den Sechzigerjahren alle fünf, sechs Jahre eine Ausländerdiskussion. So hysterisch wie diese jetzt war aber nur jene von 1992/93, als das Asylrecht eingeschränkt wurde, nachdem es die Anschläge auf Asylbewerberheime gegeben hatte - mit mehr als 50 Toten, das wird heute gern vergessen. Die Lage war sonst ähnlich wie heute: Allerdings kamen die meisten Asylbewerber aus Osteuropa - etwa 60 Prozent. Hinzu kamen die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien, die zum überwiegenden Teil nach Ende des Krieges wieder zurückgegangen sind. Ähnlich ist übrigens auch, dass die Praxis der Aufnahme und Integration der Bundesrepublik insgesamt ein durchaus gutes Zeugnis ausstellt. Die ganz großen Probleme wie in den Banlieues französischer Städte sind hier ausgeblieben. Allerdings - solche Integrationsprozesse dauern sehr lange. Wer auf schnelle Lösungen wartet, wird enttäuscht werden.

J etzt warnen viele, durch die muslimischen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten komme eine Gruppe hinzu, die kulturell gesehen viel schwerer integrierbar sei.

Das Gleiche hat man Ende des 19. Jahrhunderts auch über die polnischen Saisonarbeiter gesagt. In den 1960er-Jahren schimpften viele über die Italiener als "Spaghettifresser". In der Krise der frühen Achtzigerjahre waren noch 80 Prozent der Deutschen überzeugt, die "Gastarbeiter" müssten allesamt wieder in ihre Heimat zurückkehren. Das relativiert die heutige Aufgeregtheit ein bisschen. Dennoch ist richtig: Die Integration von Einwanderern aus dem arabischen Raum hat sich in vielen Fällen als besonders schwierig erwiesen.

Aber Sie halten die Krise in historischer Perspektive nur für eine von vielen?

Einerseits ja. In Bezug auf die Größenordnungen: nein. Womöglich hat die Bundesregierung jetzt das Ausmaß der Probleme anfangs unterschätzt- auch weil die Wirtschaft sich sehr für die Aufnahme der Flüchtlinge starkgemacht hat, um den Arbeitskräftemangel zu beheben. Aber es zeigt sich eigentlich nur erneut: Massenimmigration ist immer und unvermeidlich mit erheblichen Problemen verbunden. Das war bei der Aufnahme deutscher Flüchtlinge im Westen ab 1945 so und noch mehr im Einwandererland USA.

War es dann ein Fehler, öffentlich zu verkünden: "Wir schaffen das?"

Das kann man so einfach nicht sagen. Hier gibt es zwei gegensätzliche Argumentationslinien, die beide ihre Berechtigung besitzen. Die einen befürchten eine kulturelle und soziale Überforderung und auch ein Problem der inneren Sicherheit. Nach den Übergriffen von Köln sind ja viele Frauen, die weit entfernt von jedem rechtsradikalen Gedanken sind, sehr nachdenklich geworden und befürchten, dass durch den Migrationsschub junger arabischer Männer viele Errungenschaften der Emanzipation gefährdet sind. Und natürlich gibt es die Schattenseiten der Massenmigration: islamistische Netzwerke, Parallelgesellschaften, "Ehrenmorde". Sie sind vermutlich beherrschbar, aber wer deswegen Sorge hat, ist nicht gleich ein Rechtsradikaler.

Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

Und die andere Seite sagt eben: Wir schaffen das, wir müssen helfen.

Ja, und das ist nicht weniger überzeugend. Elf Millionen Syrer sind auf der Flucht! Das Elend ist gigantisch. Eine humanitäre Katastrophe, die immer größer wird. Soll man das ignorieren? Die Alternative hat die Kanzlerin in einer Auseinandersetzung mit der CSU einmal so beschrieben: "Wollen wir sie einfach ertrinken lassen?" Bis zu einem gewissen Punkt schließen sich beide Positionen aber aus. Deswegen ist die Debatte auch so schwierig - und so konfus.

Allerdings erscheint vielen Europäern die deutsche Politik selbstbezogen, ob in der Euro- oder in der Flüchtlingskrise.

Deutschland ist, nachdem es die Finanzkrise von 2008 überwunden, und ohne es eigentlich selber zu wollen, zu einer Art von Vormacht Europas geworden.

. . . was nicht nur in Griechenland böse Erinnerungen und Assoziationen weckt.

Hitlerbärte auf Merkel-Porträts? Wer will das ernst nehmen? Viele halten Deutschland für so stark, dass sie es für alles verantwortlich machen - andererseits ist Deutschland weltweit wahnsinnig beliebt. Es gibt hier ein viel drängenderes Problem: den Vertrauensverlust in die EU, der in vielen Ländern zu spüren ist. Dieses Europa ist das der Generation von Helmut Kohl und François Mitterrand und ihrer Vorgänger. Es war eher ein Projekt, das von oben kam, von Staatsmännern, welche die Konsequenz aus den Schrecken des Zweiten Weltkrieges zogen. Sie gingen davon aus, der wirtschaftlichen Einigung werde auch eine politische folgen. Doch die Bindekraft dieses Konzepts lässt nach. Europa muss die jüngeren Menschen durch Leistung überzeugen, die Wirksamkeit der historischen Beschwörungen hat nachgelassen.

Warum erstarkt der Nationalismus in Europa , obwohl fast alle Staaten von der EU profitieren?

Interessanterweise wächst mit der europäischen Integration das Bedürfnis nach dem eigenen Nationalstaat. Der neue Nationalismus in Europa ist sehr beunruhigend. Er ist derzeit vornehmlich eine Reaktion auf die Massenimmigration der Flüchtlinge, aber darüber hinaus auch auf den geschrumpften Spielraum der Nationalstaaten - durch die Regeln der EU, durch die Globalisierung, durch wirtschaftliche Zwänge. Der Gedanke, das Kohl-Mitterrandsche Europa sei ein Bollwerk gegen den Nationalismus, ist nicht mehr unbezweifelbar.

Das heißt: weniger Integration in Europa?

Jedenfalls ist die These "immer mehr Integration!" wohl auf den Prüfstand zu stellen. Vielleicht ist der britische Vorschlag einer Art Wirtschaftsgemeinschaft der Nationalstaaten die pragmatischere und sogar vernünftigere Lösung. Ich bin auch da skeptisch, aber wir sollten zumindest darüber diskutieren.

In Deutschland sind die rechten Kräfte schwächer als in vielen anderen Staaten Europas. Hat das noch immer historische Gründe?

Gewiss. Neonazistische Gruppen waren nie erfolgreich, weil die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik so intensiv und klärend war. Ich befürchte, über Ostdeutschland wird man das nicht so eindeutig sagen können. Der Beschäftigung mit der NS-Diktatur und der Schuld vieler Bürger wurde dort durch den offiziellen Antifaschismus oft ausgewichen. Das hat auch autoritäre Bindungen einfacher überleben lassen.

Hat die AfD die Kraft, ein deutscher Front National zu werden?

Das ist doch sehr widersprüchlich. Zum einen gibt es viele CDU-Wähler, die Merkel in der Flüchtlingsfrage zur Abschottung zwingen wollen, ohne sonst zu liebäugeln mit den Deutschnationalen. Dann locken solche Parteien eine Menge Wutbürger an, die heftig unter Dampf stehen und sich diffus benachteiligt fühlen. Drittens fransen solche Parteien schnell nach ganz rechts aus und scheitern am Ende an sich selber. Auch das ist nicht neu. Die Republikaner, einst große Hoffnung der deutschen Rechten, ruinierten sich durch Inkompetenz und Querulantentum. Oder die Hamburger Schill-Partei. Die AfD hat bereits ihren nationalliberalen Professorenflügel gekappt, man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen: Die Geschichte der Republikaner wird sich womöglich in der AfD wiederholen. Aber es wird, hält die Flüchtlingskrise an, vielleicht länger dauern.

Ulrich Herbert lehrt an der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität Neuere und Neueste Geschichte. Er arbeitet vor allem über den Nationalsozialismus, die Geschichte der Bundesrepublik und Migrationsgeschichte im 20. Jahrhundert. (Foto: imago/Gerhard Leber)

Auffällig ist natürlich, dass die neue deutsche Rechte in einem Moment größer und lauter wird, in dem es Deutschland so gut geht wie nie in seiner Geschichte. Das ist der Unterschied zu Frankreich. Es hat bei uns nicht in erster Linie soziale Ursachen. Es gibt auch den Wunsch nach autoritärer Umformung und eine Art Überdruss am liberalen Alltag der Demokratie . . .

. . . auf die viele Deutsche stolz sind.

Das neue Bürgertum hat seit den Sechzigerjahren eine liberale, pluralistische Gesellschaft geschaffen, die nicht nur gut funktioniert, sondern auch sehr erfolgreich ist. Das Erstaunen aber, dass Deutschland ein bis in seine Gene hinein liberaler Staat geworden ist, führt zu Stolz auf genau diese Entwicklung dieses Landes. Hier hat sich eine stille, neue Form der Identifikation mit dem Nationalstaat herausgebildet , der als überschaubare, partizipationsfähige Einheit geschätzt wird, im Gegensatz zu den anonymen Strukturen etwa der EU.

Teil dieser Identifikation ist militärische Zurückhaltung. Linke befürchten trotzdem Kriegstreiberei, Verteidigungspolitiker beklagen: Deutschland tue viel zu wenig; es müsse seinem politischen Gewicht gerechter werden. Was ist richtig?

Blickt man auf die vergangenen 25 Jahre, zeigt sich: Bis jetzt hat noch jeder Krieg gegen den Terrorismus nicht zu dessen Verschwinden geführt, sondern ihn verstärkt. Das lässt natürlich zweifeln, ob solche Interventionen tatsächlich hilfreich sind. Es gibt das Beispiel des Bosnienkrieges, den die Amerikaner 1995 nach Jahren innerhalb von Wochen durch Luftangriffe gegen die Serben beendet haben, während die Europäer noch immer stritten, was bloß zu tun sei. Das gilt häufig als Vorbild für erfolgreiches bewaffnetes Eingreifen, ist aber doch die Ausnahme gewesen. Schon in Kosovo hat es nicht gestimmt, in Afghanistan hat es nicht funktioniert, ganz zu schweigen vom Irak-Krieg des jüngeren George Bush 2003, den man mittlerweile als Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts ansehen kann, wenn man die Entwicklung im Nahen Osten oder in Afghanistan betrachtet.

Sollte sich Deutschland auch aus historischen Gründen zurückhalten?

Weniger deshalb, sondern weil eine vorsichtige, zurückhaltende Interventionspolitik in unserem eigenen Interesse liegt. Die deutsche Vergangenheit, die im Jugoslawien-Krieg noch eine große Rolle gespielt hat, verblasst auch hier. Schon jetzt aber ist Deutschlands Rolle in Europa ökonomisch und politisch sehr einflussstark. Käme noch das Militärische dazu, würde diese Position überdehnt.

Die Verbündeten rügen Deutschland regelmäßig für seine Zurückhaltung.

Es geht hier nicht um das Image deutscher Außenpolitiker und Generäle im Kreise der westlichen Militärfachleute. Da wird das so sein. Aber als Außenminister Westerwelle 2011 die Forderung, Deutschland müsse sich in Libyen engagieren, mit der Begründung abgelehnt hat, man wisse ja nicht einmal, für und gegen wen man hier kämpfen solle, ist er dafür heftig beschimpft worden. Und? Er hatte natürlich recht, wie sich bald zeigte. Und wie gut, dass er es durchgesetzt hat. In Syrien ist es sicher besser, wenn der deutsche Außenminister aus einer angesehenen Position heraus zwischen Saudi-Arabien und Iran zu vermitteln versucht, als wenn Deutschland mehr Soldaten schicken würde. Diese Rolle hat den Deutschen auch in der Ukraine-Krise gut gestanden und tut es noch.

Als Mittler zwischen dem Westen und Russland, die auseinanderdriften?

Gewiss nicht. Alle Bundesregierungen konnten eine solche Außenpolitik nur betreiben, weil sie fest im Westen verankert blieben. Dann kann man die guten Kontakte zu Russland pflegen und zugleich die Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte dort klar benennen und auch die Sanktionen mittragen, obwohl die deutsche Wirtschaft sehr darüber klagt. Für die russische Seite ist das manchmal schwer zu verstehen, weil der Putin-Staat dort eben sehr autoritär strukturiert ist.

Auch in der Flüchtlingspolitik gibt es Misstöne zwischen Deutschland und Russland: Die Regierung in Moskau und viele Russlanddeutsche beklagen die Entführung und Vergewaltigung eines russischstämmigen Mädchens durch Migranten - aber offenbar ist diese Geschichte nur Fantasie.

Dass Russland nun versucht, über nationalistische Bewegungen - oder im deutschen Fall auch über die Russlanddeutschen - als fünfter Kolonne einen Keil in Europas Staaten zu treiben, ist ein diplomatischer Offenbarungseid. Offenbar glauben die russischen Machthaber, den Westen so destabilisieren zu können. Das ist eine Unterschätzung freiheitlicher Systeme und eine völlig anachronistische Machtpolitik, die vor allem kaschieren sollen, dass die eigene gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung so wenig erfolgreich ist.

Andererseits haben westliche Politiker, etwa Bundespräsident Joachim Gauck, eine angebliche Appeasement-Politik gegenüber Russland beklagt.

Glücklich sind solche Vergleiche nicht. Und nach der Annexion der Krim sehe ich dafür keine Anzeichen. Aber richtig ist, dass der Westen Russland nach der Epochenwende 1989/90 vielfach nicht sehr umsichtig behandelt hat. Das hat dort Spuren hinterlassen. Russland ist keine Diktatur mehr wie in sowjetischer Zeit. Es ähnelt heute eher der Türkei - eine Demokratur mit stark autoritären Zügen. Es sieht so aus, als werde diese Art von System eine typische Erscheinung des 21. Jahrhunderts.

© SZ vom 10.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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