Ukraine:Von Fußsoldaten und Hintermännern

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In dieser Woche jährt sich der Aufstand auf dem Kiewer Maidan zum dritten Mal. Bis heute gibt es keine Urteile gegen jene, die auf dem Höhepunkt der Proteste mehr als 100 Menschen erschossen.

Von Cathrin Kahlweit, Kiew

Der weiß lackierte Metallkäfig ist an diesem Morgen leer, das Mikrofon im Inneren ausgeschaltet. Wegen einer kleinen Demonstration in Kiew hatte sich die Polizei strikt geweigert, die Angeklagten, die normalerweise hinter einem Gitter der Verhandlung folgen, quer durch das Zentrum in die Schylanska-Straße zu bringen. Ein verlorener Tag, einer von vielen.

Eigentlich hatte an diesem Tag im Swatoschenskij-Bezirksgericht der Prozess gegen fünf Männer fortgesetzt werden sollen, die angeklagt sind, in den letzten Tagen des Maidan-Aufstandes im Februar 2014 für den Tod von 48 und die Verletzung weiterer 80 Menschen verantwortlich zu sein. Es hätte um zusätzliche ballistische Gutachten gehen sollen, und um die Frage, ob die Kugeln, mit denen Opfer erschossen wurden, tatsächlich aus den Gewehren der Angeklagten stammen. Einige Untersuchungshäftlinge bestreiten das, andere sagen, sie hätten "nur ihre Arbeit getan und den Präsidenten verteidigt".

Viele Dienstwaffen wurden später in einem kleinen Fluss am Stadtrand gefunden, zertrümmert, zerstört. Aber nicht aus allen wurde geschossen. Ein Verteidiger betont auf dem Gang, sein Mandant sei damals, zwischen dem 18. und 21. Februar, nach einem Krankenhausaufenthalt nur in der Reserve eingesetzt gewesen, am oberen Ende der Institutskaja-Straße, oberhalb des Unabhängigkeitsplatzes. Gezielt und abgedrückt hätten andere. Auch der Staatsanwalt würde die Kalaschnikows gern noch näher untersuchen lassen. "Aber uns fehlt moderne Technik", sagt er, "eine Ausrüstung wie im Westen, mit der wir Projektile zweifelsfrei zuordnen und Flugbahnen ganz minutiös verfolgen können, kostet fünf Millionen Euro. Das ist hierzulande unbezahlbar." Kurz darauf wird der Prozess vertagt. Wieder einmal.

Einige Verdächtige sind längst auf die Krim oder nach Russland geflohen

Drei Monate nachdem die Proteste gegen das Regime im November 2013 begonnen hatten, die sich in dieser Woche jähren, waren auf dem Maidan mehr als hundert Menschen erschossen worden - die meisten von ihnen Demonstranten, aber auch 13 Polizisten. Unbestritten ist, dass die Täter nicht nur auf Seiten des Regimes zu finden sind; auch die Angehörigen der Maidan-Toten und deren Anwältin Jewgenia Sakrewskaja räumen ein, dass mutmaßlich aus dem Schutz der Barrikaden Schüsse von Demonstranten auf Polizisten abgegeben wurden. Ein Maidan-Aktivist hat das gegenüber Medien eingeräumt.

Dass Scharfschützen von Hausdächern auf beide Seiten mit denselben Waffen geschossen haben sollen, ist bis heute nicht bewiesen. Aber diese Frage wühlt die Ukrainer längst nicht mehr sehr auf. Wütend sind sie, weil es bis heute keine Urteile gibt. Und weil die Justiz lange beide Augen zudrückte. Ein Teil der Verdächtigen - Polizisten, Soldaten, Mitglieder der Sonderpolizei "Berkut" - ist auf die Krim geflohen, oder gleich direkt nach Russland. Ex-Präsident Viktor Janukowitsch lebt nach seiner Flucht in Rostow am Don, unweit des Kriegsgebiets im Donbass.

Im Februar 2014 erreichten die Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Regierungskräften auf dem Maidan in Kiew ihren blutigen Höhepunkt. (Foto: Brendan Hoffman/Getty)

Das Swjatoschenskij-Gericht ist eines von mehreren, an denen derzeit die vielleicht wichtigsten Strafverfahren des Landes abgewickelt werden. Anfangs sollten sich hier 26 Angeklagte verantworten, aber die meisten sind vor dem Verfahren geflohen. Zwei, die bereits in Haft saßen, wurden von wohlmeinenden Richtern in den Hausarrest entlassen, von wo aus sie sich umgehend absetzten. Nun sind genau fünf Männer übrig, denen die Verabredung einer gemeinsamen Straftat vorgeworfen wird: die gewaltsame Niederschlagung des Euro-Maidan. Vier von ihnen waren Mitglieder der Berkut-Einheit, einer war Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes. Dass sie sich das Vorgehen gegen den Euro-Maidan nicht selbst ausgedacht haben, sondern kleine Befehlsempfänger waren, damals, in den Wirren der letzten Februartage, ist allen Beteiligten klar. Deshalb wird, was einiges Aufsehen erregt, Viktor Janukowitsch nach langem Ringen als Zeuge der Verteidigung an diesem Freitag in Rostow per Skype aussagen. Einer der Anwälte der Berkut-Männer hatte ihn bereits in Moskau interviewt, wo er abstritt, jemals einen Befehl zum Angriff oder gar zur Ermordung von Demonstranten gegeben zu haben.

Trotzdem starben in jenem Spätwinter viele Aktivisten der Maidan-Bewegung, die seither in der Ukraine als die "Himmlischen Hundert" verehrt werden. Ihnen soll, wie Präsident Petro Poroschenko zum Jahrestag des Aufstandes ankündigte, nun ein Museum gewidmet werden. Die junge Anwältin der Maidan-Familien, Jewgenia Sakrewskaja, ist sehr pessimistisch, dass bei der Zeugenvernehmung des Ex-Präsidenten, gegen den in der Ukraine mehrere Verfahren laufen, etwas herauskommt. Alle Ukrainer würden zwar in einer Mischung aus Entsetzen und Neugier auf den Mann starren, sagt sie, gegen den - und seinen kleptomanischen Clan - sich damals das Land erhoben hatte. "Aber auweia", ruft sie erregt, "sicher wird Janukowitsch seine alte Version bestätigen, dass er mit nichts etwas zu tun hat. Und auf die meisten Fragen wird er nicht antworten."

Schon vor einer Woche hatte Poroschenko in der Generalstaatsanwaltschaft als Zeuge für die Maidan-Prozesse Rede und Antwort gestanden. Er war Finanzier, Unterstützer und Spindoktor der prominentesten Anführer, des späteren Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko und des späteren Regierungschefs Arsenij Jazenjuk, gewesen, aber erst Monate später in sein jetziges Amt gewählt worden.

Monatelang haben die Ermittler um Staatsanwalt Sergej Horbatjuk Material für die Maidan-Prozesse zusammengetragen - schwer genug, weil im Chaos nach den tagelangen Schießereien und dem Machtwechsel niemand daran gedacht oder befohlen hatte, Beweismittel zu sichern. Tausende Stunden Videomaterial und Fotos wurden seither gesichtet, Handy-Daten und Überwachungskameras ausgewertet. Mehrere Tausend Aktenordner sind zusammengekommen, kaum jemand hat noch den Überblick. Geholfen haben die Familien der Opfer, die sich im Verein der "Helden der Himmlischen Hundert" zusammengeschlossen haben. Sie haben über die sozialen Netzwerke dazu aufgerufen einzuschicken, was helfen könnte, haben Filme zusammengeschnitten und selbst nach Zeugen gesucht.

Einer von ihnen war der IT-Fachmann Wolodymyr Bondartschuk, Sprecher der Angehörigengruppe. Er hat seinen Vater auf dem Maidan verloren. Der Physik- und Astronomielehrer war ein Demonstrant der ersten Stunde gewesen, monatelang war er wieder und wieder zum Unabhängigkeitsplatz gezogen, auch am Morgen des 20. Februar. Als seine Familie hörte, dass es nach dem Gemetzel der vergangenen Tage wieder Tote gegeben habe, rief Wolodymyr den Vater an. Ein Polizeileutnant nahm ab, er hatte das Mobiltelefon des erschossenen Vaters in der Hand. "Der Leichenbeschauer wollte nicht auf den Totenschein schreiben, dass mein Vater an einer Schussverletzung gestorben war", sagt Bondartschuk, bis heute empört und bewegt. "Wir mussten Druck machen, damit das schließlich geändert wurde."

Die Menschen, die damals erschossen wurden, verehren die Ukrainer heute als die "Himmlischen Hundert". (Foto: Efrem Lukatsky/AP)

Der Generalstaatsanwalt will sich jetzt persönlich um den Prozess gegen Janukowitsch kümmern

Vor einigen Wochen hat Generalstaatsanwalt Jurij Luzenko einen wichtigen Teil der laufenden Verfahren an sich gezogen: die Ermittlungen gegen die damalige politische Führungsspitze um Janukowitsch, den Innenminister, den Geheimdienstchef. Er argumentiert damit, dass die gesetzlichen Fristen ausliefen, innerhalb derer diese Verfahren beendet sein müssten; das müsse jetzt alles schneller gehen, da könne man nicht abwarten. Nun sollen Janukowitsch und sein engster Kreis in Abwesenheit verurteilt werden - wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Hochverrats. "Ich will nicht in einem Land leben, in dem Janukowitsch immer nur unter Verdacht ist", sagt Luzenko, "Urteile müssen her. Die Deadline droht, sonst müssen die Akten geschlossen werden."

Der oberste Ermittler hat genaue Vorstellungen davon, wie die Anklage aussehen soll: Janukowitsch sei an die Macht gekommen, erläutert Luzenko, und habe sogleich eine Art Mafia-Organisation gegründet, die aus den Ministern, Gouverneuren und Parteichefs bestanden habe. Das Ziel: Aneignung von Volksvermögen. Später, als der Staat bankrott gewesen sei, weil der Clan 40 Milliarden Dollar beiseitegeschafft hatte, habe er diese kriminelle Organisation genutzt, um an der Macht zu bleiben. "Er hat absichtlich die Einsatzfähigkeit der Armee unterminiert, dafür habe ich Beweise, dann hat er den Geheimdienst zerstört. Wussten Sie übrigens, dass der Verteidigungsminister und der Geheimdienstchef damals russische Staatsbürger waren? Dann hat er die Maidan-Proteste niederschlagen lassen, ist zum Feind geflohen, hat russische Truppen auf die Krim und in den Donbass gebracht. Das ist Hochverrat." Eine gewagte Konstruktion, warnen Fachleute.

Das ahnt auch der Generalstaatsanwalt. Um die Fälle gemeinsam - und schnell - abzuurteilen, müssten Gesetze geändert werden, räumt er ein. Aber er werde dafür sorgen, kündigt Luzenko an, dass die Verurteilungen in Abwesenheit der Täter so bombensicher seien, dass sie vor internationalen Gerichten standhielten.

Sein Untergebener, Staatsanwalt Horbatjuk, und die Maidan-Ermittler haben an dieser Lösung mindestens ebenso massive Zweifel wie die Familien der Himmlischen Hundert. Aber Luzenko betont, er habe die Rückendeckung des Präsidenten. Und des ganzen Volkes.

© SZ vom 24.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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