Ukraine:Tag der Ahnungen und Ängste

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Das Land feiert die Unabhängigkeit auf dem Kiewer Maidan und in anderen Städten. Die Regierung warnt fast hysterisch vor russischen Anschlägen - sie gibt damit zu, wie prekär ihre Lage ist.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Schon im vergangenen Jahr, da war der Krieg zwischen den prorussischen Separatisten im Donbass und der Ukraine gerade erst ein paar Wochen alt, hatten sich vor dem ukrainischen Unabhängigkeitstag die Experten mit schlimmen Vorahnungen überschlagen: Just an diesem symbolischen Tag, da waren sich alle Pessimisten einig, werde Russland, das die Separatisten von Anfang an unterstützte, in die Ukraine einmarschieren. Das geschah bekanntlich nicht. Aber Ahnungen und Ängste sind geblieben: In den Tagen vor dem diesjährigen Unabhängigkeitstag warnten die Sicherheitsdienste fast hysterisch mit stündlichen Aussendungen vor Terroranschlägen durch russische Agenten, die sich als ukrainische Soldaten verkleiden würden. Und vor Artilleriebeschuss von Wohngebieten im Donbass, die der ukrainischen Armee just am Unabhängigkeitstag in die Schuhe geschoben werden sollten, um den Hass auf Kiew zu schüren.

Unter Veteranen soll es einen regelrechten Wettkampf gegeben haben, wer teilnehmen darf

Stattdessen verlief der Feiertag im ganzen Land allerdings erst einmal ruhig und in so großer Hitze, dass der Kommandeur einer Militäreinheit seinen Leuten auf dem Maidan mit Wasser aus einer mitgebrachten Flasche die roten Köpfe kühlte. Aber es gab auch viel Pomp, Gloria und eine Parade zu sehen, die viel vom Krieg erzählte, aber auch von einer demonstrativ zur Schau getragenen Zuversicht und eher kleinen statt großen Siegen. Denn diesmal liefen nicht nur begeisterte Kiewer, sondern auch Hunderte Soldaten mit, die in dem von Kiew immer noch als "Antiterrorzone" bezeichneten Konfliktgebiet gekämpft haben. Es soll, berichten Veteranen, einen regelrechten Konkurrenzkampf um die Plätze in den Truppen gegeben haben, die über den zentralen Platz der Stadt marschieren durften. In diesem Jahr waren sie deutlich besser ausgerüstet und angezogen als noch 2014, als sich die marschierenden Soldaten teilweise Stiefel oder Uniformen ausleihen mussten, weil die Armee nicht genug bereitstellen konnte.

Aber trotz aller patriotischer Begeisterung ist ein Jahr vergangen und der Krieg schwelt weiter, zwei Minsk-Vereinbarungen und vielen Beteuerungen zum Trotz. In den vergangenen Wochen ist er sogar wieder auf so beunruhigende Weise aufgeflammt, sodass der ukrainische Präsident Petro Poroschenko am Nachmittag des landesweit mit Märschen, Fahnenappellen und Festen begangenen Feiertags nach Berlin flog, um sich dort mit Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsidenten zu treffen. Zuvor hatte auch er die Ängste vom vergangen Sommer noch einmal neu belebt, die bis heute in der Ukraine umgehen: Die Nation stehe vor einem mehr als schwierigen Jahr, der russische Einmarsch drohe nach wie vor. Auch 24 Jahre nach der Unabhängigkeit, die aus dem Zerfall der Sowjetunion erwuchs, könne ein kleiner Fehler, ein falscher politischer Schritt fatal sein. Der Kampf um die Unabhängigkeit des Landes, so betonte Petro Poroschenko vor mehreren Tausend Menschen, gehe weiter.

Merkel und Hollande wollte Poroschenko am Abend treffen - trotz Kritik aus Russland

Der Präsident warnte, dass Russland 50 000 Soldaten entlang der Grenze zum Donbass stationiert habe, 9000 russische Kämpfer unterstützten außerdem die Separatisten aktiv im Donbass. Just vor dem ukrainischen Nationalfeiertag hätten zusätzliche Konvois russischer Militärfahrzeuge die Grenze überquert.

Moskau bestreitet diese Zahlen vehement, und tatsächlich lässt sich nicht alles überprüfen, was Poroschenko am Montag zur Hebung von Moral und Kampfbereitschaft sagte, aber Poroschenko formulierte weitere Warnungen: Alternativ zu einem Einmarsch versuche Moskau weiterhin, den Westkurs der Ukraine zu unterminieren und das Land zu isolieren.

Weil diese Sorgen zumindest zum Teil auch in der EU geteilt werden, trafen sich dann am Abend Merkel und Hollande mit Poroschenko im so genannten Normandie-Format, allerdings ohne ihren russischen Counterpart Wladimir Putin. Die Bundesregierung verteidigte den Dreiergipfel gegen Kritik aus Russland. Für Berlin bleibe ein "enger Draht zu Moskau unverzichtbar", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. "Das ist kein Ersatz für Treffen im Viererformat." Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) machte vor dem Treffen seine Unzufriedenheit über die Umsetzung des Minsker Abkommens deutlich. "Von einer echten Lösung sind wir weit entfernt", sagte er auf der Jahreskonferenz der deutschen Auslandsbotschafter. Zugleich sprach er sich für eine Verbesserung des Verhältnisses zu Russland aus.

© SZ vom 25.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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