Ukraine:Kleiner Mauerfall

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Zwischen Eiffelturm und Windmühlen: Präsident Petro Poroschenko und sein slowakischer Kollege Andrej Kiska freuen sich über die neue Visafreiheit. (Foto: Reuters)

Die Ukrainer feiern ihre neue Visafreiheit für die EU als endgültigen Abschied von der Sowjetepoche. Doch ein paar Hürden bleiben. Viele können sich die Reise kaum leisten.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Der Zaun zwischen Ungarn und Österreich wurde im Sommer 1989 aufgeschnitten. Die Grenzübergänge in der Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland wurden im November 1989 erst versehentlich geöffnet - und dann überrannt. Das Tor, durch das am vergangenen Sonntag der ukrainische Präsident Petro Poroschenko schritt, um seinen slowakischen Kollegen Andrej Kiska im Grenzort Uschgorod in die Arme zu schließen, war symbolischer Natur: Die beiden Staatschefs feierten den Beginn der Visafreiheit für Ukrainer in der Europäischen Union, die Poroschenko als letztgültigen Beweis dafür bezeichnete, dass die Ukraine sich von ihrer sowjetischen Vergangenheit verabschiedet habe.

Für die Ukrainer bedeutete die Entscheidung der EU, die am 11. Juni in Kraft getreten ist, einen kleinen Mauerfall. Bisher konnten sie nur mit Visum nach Europa reisen, obwohl sich die meisten der 48 Millionen Bürger des osteuropäischen Landes doch längst als Europäer fühlen. "Ruhm für Europa, Ruhm für die Ukraine" hatte Poroschenko am Sonntag euphorisch getwittert - in Anlehnung an den legendären Slogan, der zum Schlachtruf des Maidan-Aufstandes 2013 geworden war: "Ruhm der Ukraine, Ruhm den Helden". Tausende hatten am Wochenende in Kiew den historischen Moment mit einem Konzert und einem Straßenfest gefeiert; Tausende waren umgehend an die Grenzen und zu den Flughäfen aufgebrochen, um das neue Freiheitsgefühl zu erleben. Ukrainer können nun für 90 Tage als Touristen, Geschäftsreisende oder für Familienbesuche in die EU reisen, wobei Irland und Großbritannien ausgenommen sind; andererseits verzichten auch Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz in Zukunft auf Visa. Möglich geworden war das Ganze, weil der Europäische Rat die Visafreiheit im Mai beschlossen hatte. Die Kommission hatte diesen Schritt schon 2016 befürwortet, allerdings hatten mehrere Mitgliedsländer, darunter Deutschland, sich aus Angst vor einer steigenden Zahl von Asylsuchenden und Flüchtlingen skeptisch gezeigt. Nun enthält die Regelung einen Mechanismus, mit dem die Visafreiheit bei massivem Missbrauch aufgehoben werden kann.

Dementsprechend warnte Außenminister Pawlo Klimkin seine Landsleute, sie sollten sich an die Regeln halten und keineswegs schwarz in der EU arbeiten. "Wenn sich die Migrationszahlen auffällig erhöhen, wird man in Brüssel herauszufinden suchen, warum das plötzlich der Fall ist", so Klimkin. Die Behörden erwarten mittelfristig einen Anstieg des Reiseverkehrs um 30 Prozent.

Damit die Visafreiheit in Brüssel genehmigt wird, musste Kiew mehr als 140 Bedingungen erfüllen: schärfere Grenzkontrollen, eine intensivere Bekämpfung von Korruption und organisiertem Verbrechen. Den ersten Anlauf hatte es bereits 2005 gegeben, das Verfahren war aber gestoppt worden, als Ex-Präsident Viktor Janukowitsch 2010 an die Macht kam.

Bahn- und Fluggesellschaften wollen ihre Streckennetze in die EU-Länder ausdehnen

Allerdings: Auch für Reisen ohne Visum gelten in Zukunft dieselben Bedingungen, die Ukrainer schon bisher erfüllen mussten, wenn sie sich mit der Bitte um ein Visum an eine europäische Botschaft wandten: Wenn sie in die Schengen-Zone einreisen wollen, müssen sie ein Rückreiseticket vorlegen, eine Krankenversicherung, genügend Geld für den Aufenthalt (mindestens 20 Euro pro Tag) und einen Beleg über ihren Aufenthaltsort. Was wegfällt, ist die oft demütigende und langwierige Prozedur in den EU-Botschaften; hinzugekommen ist aber eine weitere Prozedur: Wer ohne Visum reisen will, braucht einen biometrischen Pass. Die Wartezeiten dafür sind allerdings extrem lang. So oder so bleibt eine Auslandsreise für die meisten Bürger zwischen Lemberg und Dnjepro vorerst ein Traum, weil sich kaum jemand das teure Vergnügen leisten kann.

Am späten Abend des 11. Juni sind gleichwohl bereits mehr als 60 000 Ukrainer mit einem biometrischen Pass in die EU gereist, wobei die allermeisten von ihnen zusätzlich ein Visum besorgt hatten, nach dem Motto: sicher ist sicher. Besonders viel Spaß hatten Ukrainer, die im "ersten visafreien Zug" saßen, der am Sonntag die Grenze nach Polen überquerte. Eisenbahngesellschaften und die ukrainische Fluglinie wollen die Zahl ihrer Verbindungen in die EU deutlich erhöhen. Auch mit dem Entstehen weiterer Billigfluglinien wird gerechnet. Zuletzt war Georgien in den Genuss der Visafreiheit durch die EU gekommen.

© SZ vom 13.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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