Ukraine:Entdeckung des Wir

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Die Erinnerung an das Massaker von Babij Jar zeigt, dass die Ukrainer ein eigenes, differenziertes Geschichtsverständnis entwickeln. Aber der Krieg im Osten schafft auch neue Feindbilder.

Von Cathrin Kahlweit

In Kiew dauern die Feierlichkeiten diesmal eine ganze Woche lang. Eine so tiefe Verbeugung vor den Toten ist ungewöhnlich - nicht nur für die Verhältnisse der Ukraine. Vor 75 Jahren währte das Massaker von Babij Jar ganze 36 Stunden - anderthalb kurze Tage, in denen die SS, unterstützt von der Wehrmacht, fast 34 000 Juden in einer Schlucht vor Kiew erschossen und verscharrt hat.

Später, in der von Antisemitismus geprägten Sowjetära, herrschte beredtes Schweigen über die Verbrechen an Juden, auch wenn sie von Nazis begangen worden waren. Selbst die Tatsache, dass nach Tausenden jüdischen Bürgern auch Tausende Kommunisten, Roma und Partisanen hier umkamen, änderte nichts daran: Bis zur ukrainischen Unabhängigkeit 1991 blieb das Schlachten von Babij Jar - zumindest öffentlich - unbetrauert.

Seither gibt es eine tastende Annäherung, denn nicht nur das ukrainisch-jüdische Verhältnis, sondern auch das Verhältnis der Ukrainer zu sich selbst bedurfte einer brutalen Selbstprüfung. Ukrainische Kollaborateure hatten der SS bei der Ermordung der Juden geholfen. Und die Frontstellung im Großen Vaterländischen Krieg war eben doch weit komplexer gewesen, als die von Moskau auf Rot gegen Braun reduzierte Konfrontation zwischen Kommunismus und Faschismus glauben machte.

Mittlerweile sucht die Ukraine einen neuen Zugang zu Holocaust und Weltkrieg, und es scheint so, als sei die Debatte an einem Punkt angekommen, an dem ein selbstkritisches Geschichtsverständnis eine breite Öffentlichkeit erreicht. Die Gedenkfeiern für die Opfer von Babij Jar, die zum 75. Jahrestag mit Konzerten, Symposien, Ausstellungen, einer Rede des ukrainischen und einer Visite des deutschen Präsidenten begangen werden, sind ein Indiz dafür.

Das Land stellt sich der Historie - und pflegt neue Feindbilder

Vor allem der Maidan-Aufstand vor mittlerweile fast drei Jahren hat zivilgesellschaftliche Kräfte freigesetzt, die über die Zukunft der Nation im Licht der Vergangenheit sprechen, was ein großartiges - und ein riskantes Unterfangen ist. Gerade die Deutschen wissen, wie schwierig es ist, mit Mythen aufzuräumen und Schuld anzuerkennen. Ukrainische Historiker bezeichnen daher die aktuelle Diskussion als Identitätssuche im Rahmen eines verspäteten Staatsaufbauprozesses: Wer waren wir, wer wollen wir sein?

Mehr als der Maidan aber hat der Krieg im Donbass die Nation verändert. Russland als Motor hinter den Separatisten, der einstige Bruder als neuer, übermächtiger Feind - aus diesem Schock ist Abgrenzung und daraus wiederum ein Nationalgefühl erwachsen. Nun explodiert es geradezu: die Ukrainer, ein einig Volk; Kiew, die Wiege der Orthodoxie; die Kiewer Rus, Wiege des russischen Reichs; die Ukraine, ein Opfer des sowjetischen Imperialismus; bestickte Hemden an Feiertagen; blau-gelbe Flaggen für jeden Tag; wir gegen die.

All diese Motive trugen zur Selbstfindung und zur Mobilisierung im Krieg bei - und stabilisierten die neuen Machtverhältnisse im Land. Sie befriedeten die Ukraine nach der Maidan-Revolte innerlich. Aber dann vergifteten der Krieg und die Zweifel an der Reformfähigkeit der alten Eliten die Stimmung; mit dem wachsenden Nationalismus, der den offenen Diskurs einer sich öffnenden Gesellschaft abzuwürgen droht, droht auch die Stimmung zu kippen.

Denn während die Mehrheit der Ukrainer zunehmend dankbar an die einigende Kraft einer gemeinsamen Identität glaubt, wachsen die radikalen Kräfte, die Landesverrat wittern, wo Geschichtspolitik nicht vor allem gegen den Feind gerichtet und eingesetzt wird. Alles Russische ist danach Propaganda, eine Reise ins Separatistengebiet ist Kollaboration mit dem Gegner. Wer den Bildersturm gegen Sowjet-Relikte, wie zum Beispiel die Umbenennung von Straßen oder den Abbau von Denkmälern, als ahistorisch ablehnt, gilt als Verräter. Die Regierung fördert diesen Radikalismus, weil er ihr nützt und sie schützt. Der hybride Krieg, mit dem Moskau nicht nur die Ostukraine, sondern mittels höchst effektiver Desinformationspolitik das ganze Land überzieht, treibt derzeit all jene in die Defensive, die davor warnen, die neue ukrainische Identität über Feindbilder zu definieren. Aber das ist viel verlangt angesichts einer von außen aufgezwungenen Aggression, die auch auf die Destabilisierung einer Nation abzielt, die sich gerade neu erfindet. Der am Mittwoch veröffentlichte Untersuchungsbericht zum Abschuss des Fluges MH 17 belegt diesen Mechanismus einmal mehr. Das kalkulierte Spiel des Kreml mit Manipulation, Lügen und Verwirrung befördert in der Ukraine nur eines: das Zusammenrücken einer empörten Nation.

© SZ vom 29.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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