Krieg in der Ukraine:Russland verstärkt offenbar seine Angriffe in der Ostukraine

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Leid und Zerstörung: eine Bewohnerin in der vom Krieg schwer gezeichneten Stadt Mariupol. (Foto: ALEXANDER ERMOCHENKO/REUTERS)

Moskau habe "fast alle und alles, was fähig ist, mit uns zu kämpfen, zusammengetrieben", sagt der ukrainische Präsident Selenskij. Den USA und Großbritannien zufolge kommen die russischen Kräfte vielerorts dennoch nur schwer voran.

Die Ukraine sieht sich im Osten des Landes mit einem massiven russischen Truppenaufmarsch konfrontiert. "Jetzt ist praktisch der gesamte kampfbereite Teil der russischen Armee auf dem Territorium unseres Staates und in den Grenzgebieten Russlands konzentriert", sagte Präsident Wolodimir Selenskij in einer allnächtlichen Videobotschaft. Die russische Seite habe "fast alle und alles, was fähig ist, mit uns zu kämpfen, zusammengetrieben", sagte Selenskij. Er forderte erneut Waffen.

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Nachdem bereits die Lieferung von "Gepard"-Panzern bewilligt wurde, erwägt die Ampel der Ukraine noch ein weiteres schweres Waffensystem zukommen zu lassen. Die Gasspeicher in Deutschland müssen bis November zu 90 Prozent voll sein.

Nach Erkenntnissen des Londoner Verteidigungsministeriums verstärkt die russische Armee entlang der Demarkationslinie zum Donbass in der Ostukraine die Angriffe. Die Ukraine wehre aber zahlreiche Vorstöße russischer Truppen ab, teilte das britische Verteidigungsministerium am Dienstagabend unter Berufung auf Geheimdienstinformationen mit. Russische Fortschritte würden weiterhin durch das Gelände sowie logistische und technische Schwierigkeiten behindert. Dazu komme auch die Widerstandsfähigkeit der hochmotivierten ukrainischen Armee. Dass es Russland nicht gelungen sei, den Widerstand in der umkämpften südostukrainischen Hafenstadt Mariupol auszumerzen sowie die wahllosen russischen Angriffe, die Zivilisten treffen, seien weitere Hinweise darauf, dass Moskau seine Ziele nicht so schnell wie erhofft erreiche.

Signifikante Fortschritte erreichen die Russen offenbar nur in einer Kleinstadt

Aus der südukrainischen Großstadt Mykolajiw ist erneut Beschuss gemeldet worden. "Wieder Explosionen in Mykolajiw", schrieb der Bürgermeister der Stadt, Olexander Senkewytsch, am frühen Mittwochmorgen auf Telegram. Über Schäden und Opfer gab es zunächst keine Angaben. Separatistische Gruppierungen der "Volksrepublik" Luhansk vermeldeten unterdessen die Einnahme einer Kleinstadt im Gebiet Luhansk im Osten der Ukraine. Die Stadt Kreminna sei "vollständig" unter Kontrolle der Einheiten der "Volksrepublik", teilte die Luhansker "Volksmiliz" am Dienstagabend auf Telegram mit. Laut der jüngsten Analyse des US-Kriegsforschungsinstituts ISW war der Vorstoß nach Kreminna die einzige russische Bodenoffensive binnen 24 Stunden, die "signifikante Fortschritte" gemacht habe.

Das US-Verteidigungsministerium teilte seine Einschätzung mit, dass die ukrainische Luftwaffe aktuell besser da stehe als vor zwei Wochen. Verbündete Staaten, die mit den gleichen Flugzeugtypen Erfahrung hätten, hätten den Ukrainern dabei geholfen, mehr Flugzeuge einsatzbereit zu machen, erklärte der Sprecher. "In diesem Moment haben die Ukrainer mehr Kampfflugzeuge zur Verfügung als noch vor zwei Wochen."

Moskau kündigte unterdessen am Dienstagabend eine neue Frist für die in einem Stahlwerk verschanzten letzten Verteidiger in Mariupol an. Generaloberst Michail Misinzew kündigte eine einseitige Feuerpause samt Fluchtkorridor aus dem Stahlwerk für Mittwoch, 14 Uhr Moskauer Zeit an, das wäre 13 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Im Zuge dieser Feuerpause könnten sich ukrainische Kämpfer ergeben und Zivilisten evakuiert werden, heißt es in der Mitteilung des russischen Generaloberst. Russland will die strategisch wichtige Hafenstadt komplett unter seine Kontrolle bringen. Frühere Ultimaten an die Verteidiger ließen diese verstreichen.

"Der Feind ist uns zehn zu eins überlegen"

In einem dramatischen Appell hat der derweil ukrainische Kommandeur der verbliebenen Marineinfanteristen in der schwer umkämpften Hafenstadt Mariupol um eine Evakuierung in einen Drittstaat gebeten. "Der Feind ist uns zehn zu eins überlegen", sagte Serhij Wolyna, Kommandeur der ukrainischen 36. Marineinfanteriebrigade, in einer am frühen Morgen auf Facebook veröffentlichten einminütigen Videobotschaft. "Wir appellieren an alle führenden Politiker der Welt, uns zu helfen." Russland habe Vorteile in der Luft, bei der Artillerie, den Bodentruppen, bei Ausrüstung und Panzern, sagt Wolyna weiter. Die ukrainische Seite verteidige nur ein Objekt, das Stahlwerk Asowstal, wo sich außer Militärs noch Zivilisten befänden.

Zum TV-Sender CNN sagte Wolyna, eine Evakuierung könne etwa per Schiff oder per Helikopter erfolgen. Auch eine internationale humanitäre Mission sei eine Möglichkeit. Zur Frage, wie viele ukrainische Militärs sich auf dem Gelände des Stahlwerks aufhielten, machte er keine Angaben. Zuletzt hielten sich russischen Angaben zufolge rund 2500 ukrainische Kämpfer und 400 ausländische Söldner in dem Stahlwerk verschanzt. Ukrainischen Mitteilungen zufolge sollen rund 1000 Zivilisten dort Schutz gesucht haben. Russland hat die ukrainischen Truppen dort bereits mehrmals dazu aufgerufen, sich zu ergeben.

Kanada liefert schwere Waffen, Deutschland debattiert weiter

In Deutschland geht die Debatte um eine Lieferung schwerer Waffen auch nach der jüngsten Erklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) weiter. Dem Grünen-Politiker Anton Hofreiter und der FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann gehen Scholz' Äußerungen vom Dienstagabend nicht weit genug. Auch der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk zeigte sich unzufrieden. Scholz hat der Ukraine zugesagt, direkte Rüstungslieferungen der deutschen Industrie zu finanzieren. "Wir haben die deutsche Rüstungsindustrie gebeten uns zu sagen, welches Material sie in nächster Zeit liefern kann", sagte er am Dienstag. "Die Ukraine hat sich nun von dieser Liste eine Auswahl zu eigen gemacht, und wir stellen ihr das für den Kauf notwendige Geld zur Verfügung." Darunter seien wie bisher Panzerabwehrwaffen, Luftabwehrgeräte, Munition "und auch das, was man in einem Artilleriegefecht einsetzen kann". Melnyk kritisierte die Ankündigung des Kanzlers als unzureichend. Sie seien in der ukrainischen Hauptstadt Kiew "mit großer Enttäuschung und Bitterkeit" zur Kenntnis genommen worden, sagte Melnyk der Deutschen Presse-Agentur. Im ZDF-"heute journal" monierte er zudem: "Die Waffen, die wir brauchen, die sind nicht auf dieser Liste."

Derweil will Kanada schwere Artilleriewaffen zur Verteidigung der Ukraine gegen den Angriff Russlands schicken. Das sagte Premierminister Justin Trudeau am Dienstag in New Brunswick. Details zu den Waffen und ihren Kosten sollen in den kommenden Tagen vorgestellt werden.

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