Ukraine:Crashkurs Politik

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Hält das Zepter in der Hand: Präsident Wolodimir Selenskij bei seiner Vereidigung im Mai. (Foto: Efrem Lukatsky/AP)

Alles soll anders werden in der Ukraine: Deshalb schult die siegreiche Partei "Diener des Volkes" eiligst ihre Jungparlamentarier. Viele von ihnen haben noch nie Politik gemacht. Über jeden Verdacht erhaben sind sie deshalb nicht.

Von Florian Hassel, Warschau

Der August ist auch in der Ukraine gewöhnlich keine Zeit intensiver Politik. So wunderten sich die Gäste im edlen Ferienhotel Rixos im westukrainischen Karpatenkurort Truskawitz nicht wenig, als sie in den ersten Augusttagen Dutzende künftige Parlamentarier trafen. Doch für die 250 Jungpolitiker drängt die Zeit: Keiner von ihnen hat je in einem Parlament gesessen - schon von 29. August an, wenn das neue Parlament der Ukraine zusammentritt, aber sollen sie als "Diener des Volkes" die Interessen von Präsident Wolodimir Selenskij vertreten. Und so gingen die Jungparlamentarier eine Woche lang vom frühen Morgen bis zum späten Abend durch einen Crash-Kurs, organisiert von der Präsidentenpartei und der Kiewer Hochschule für Wirtschaft.

Die Ukrainer haben, erstmals seit Langem, hohe Erwartungen an ihre neue Führung: 60 Prozent hoffen einer Umfrage der Kucheriw-Stiftung für demokratische Initiativen zufolge auf schnelle Reformen. Dafür soll das neue Parlament, in dem die Partei "Diener des Volkes" mit 254 von 424 Sitzen die absolute Mehrheit hat, schon im ersten Monat nicht nur einer neuen Regierung zustimmen, sondern auch mehr Reformgesetze verabschieden als in den zehn Jahren zuvor. Das verlangte Präsident Selenskij von seiner Fraktion beim ersten Treffen mit den gewählten Parlamentariern, berichtet das Magazin Nowoje Wremja. Bekannt sind bisher freilich eher populistische Initiativen: etwa die Abschaffung parlamentarischer Immunität vor Strafverfolgung.

Schon steht fest, wer das neue Parlament führen soll: Dimitrij Rasumkow. Er war während des Präsidentschaftswahlkampfes des Fernsehsatirikers Selenskij dessen Sprecher. Er ist Chef der binnen Wochen aus dem Boden gestampften Partei "Diener des Volkes". Der 35 Jahre alte Rasumkow soll Parlamentspräsident werden, ein anderer Parteistratege, der 43 alte Jurist Ruslan Stefantschuk, sein Stellvertreter. Diese Entscheidungen sind angesichts der absoluten Mehrheit Formsache. Das ist ein Novum in der ukrainischen Politik, in der noch nie eine Partei die absolute Mehrheit im Parlament hatte. Kompromisse, Deals hinter den Kulissen oder massiver Stimmenkauf waren die Regel.

Der neue Präsident und sein Umfeld sind keineswegs über jeden Verdacht erhaben

Jetzt soll alles anders werden. Die "Diener des Volkes" sollen als einheitliche Maschinerie der Gesetzgebung arbeiten. "Wir sind wie ein großes Auto, und jeder von euch ist Teil dieses Autos. Es funktioniert nicht ohne euch. Aber ihr könnt ebenfalls nichts ohne es tun", stimmte Parteichef Rasumkow die neuen Parlamentarier auf ihre Aufgabe ein. Freilich bezweifeln viele, dass die über 250 zusammengewürfelten Parlamentarier der "Diener des Volkes" lange die Einheit wahren. Und so soll ein neues Gesetz ermöglichen, Abweichler aus Fraktion und Parlament auszuschließen.

Bisher war in der Ukraine neben dem Staatspräsidenten der Regierungschef ein Machtzentrum. Der Präsident schlägt den Regierungschef zwar vor, danach muss das Parlament zustimmen. Und es kann nur das Parlament, nicht der Präsident, den einmal gewählten Regierungschef wieder entlassen. Doch angesichts der absoluten Mehrheit der "Diener des Volkes" wäre die Entlassung eines renitenten Regierungschefs vordergründig nur Formsache.

Als mögliche Ministerpräsidenten werden Andrij Koboljew und Jurij Witreko, Spitzenmanager des staatlichen Gaskonzerns Naftogas genannt. Der Anwalt Olexej Honcharuk und der Finanzexperte Wladislaw Raschkowan oder Ex-Wirtschaftsminister Aivaras Abromavicius kommen ebenfalls infrage. Präsident Selenskij wird auch Schlüsselpositionen wie die Ministerien für Inneres und Verteidigung, Äußeres und Finanzen neu besetzen.

Ukrainern gilt Umfragen zufolge die Bekämpfung der Korruption als wichtigste Aufgabe überhaupt. Die kann nur durch eine Reform der diskreditierten Generalstaatsanwaltschaft und der fast durchgehend korrupten ukrainischen Gerichte gelingen. Eine Vorentscheidung hat Präsident Selenskij getroffen, als er bekannt gab, er werde Ruslan Rjaboschapka als neuen Generalstaatsanwalt vorschlagen. Der Jurist hat intensive Erfahrung in ukrainischen Behörden und gegenüber westlichen Institutionen. Er gilt bei Bürgerrechtlern als potenziell exzellenter Chef der Generalstaatsanwaltschaft. Mit ihren 15 000 Staatsanwälten ist sie eine zentrale Schaltstelle der Justiz. Doch angesichts der vielen Fälle von Korruption und Einflussnahme ist sie massiv reformbedürftig.

Schon gibt es aber auch erste Zweifel am Reformwillen Selenskijs: Anfang August ernannte der Präsident per Erlass eine Kommission zur Vorbereitung aller Justizreformen. Dort finden sich trotz Protesten unabhängiger Experten etliche diskreditierte Richter und andere Amtsträger wieder, die unter Korruptionsverdacht stehen oder durch politische Urteile unter früheren Regierungen aufgefallen waren. Vom Integritätsrat der Ukraine wurden sie offiziell als untragbar für öffentliche Ämter abgelehnt.

Auch Selenskijs Kontakte zum umstrittenen Oligarchen Ihor Kolomoiskij lösen weiter Bedenken aus. Die Unterstützung Selenskijs durch Kolomoiskijs Fernsehsender 1+1 war maßgeblich für Selenskijs Wahl zum Präsidenten. Selenskij wird auf Schritt und Tritt von Andrij Bohdan begleitet, dem früheren Anwalt Kolomoiskijs, gegen den nach wie vor wegen mutmaßlich milliardenschweren Betrugs bei der früher ihm gehörenden PrivatBank ermittelt wird.

Bohdan ist nun Stabschef Selenskijs und gehört zu den Strippenziehern: Dem Kiewer Bürgermeister Witalij Klitschko zufolge soll Bohdan von ihm verlangt haben, alle wichtigen Entscheidungen in Kiew ab sofort mit Vertrauten Bohdans abzuklären. Und im neuen Parlament zählte das Bürgerrechtler-Medium Hromadske unter den "Dienern des Volkes" gleich 20 Abgeordnete, die Kolomoiskij nahestehen.

© SZ vom 19.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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