Ukraine:Am Abgrund der Schuld

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Zur Wahrheit gehöre "das Eingeständnis, dass auch die deutsche Wehrmacht an diesen Verbrechen maßgeblich beteiligt war", sagt Gauck bei der Gedenkfeier. (Foto: Efrem Lukatsky/AP)

Joachim Gauck reist nach Babij Jar, wo die Deutschen 33000 ukrainische Juden ermordeten. Er spricht aber auch über die Politik von heute.

Von Constanze von Bullion, Kiew

Eine Schlucht kann man zuschütten, aber die Erinnerung wird sich immer wieder Bahn brechen. Das ist so ein Satz, mit dem Joachim Gauck den Mut zum Erinnern anzufachen sucht. Es bleibt beim Versuch. Babij Jar, die Großmütterschlucht, ein Ort ohne Gesicht, an dem am Mittwoch gemeinsames Gedenken geübt wird. Vor 75 Jahren haben SS-Männer hier ein beispielloses Massaker an jüdischen Zivilisten verübt, in bestem Einvernehmen mit der Wehrmacht und ukrainischen Mordgesellen. In der Schlucht von Babij Jar wurden am 29. und 30. September 1941 mehr als 33 000 ukrainische Juden ermordet, binnen 36 Stunden. Die meisten waren Kinder, Frauen, Alte, die sich vor der Hinrichtung nackt auszuziehen und auf tote Nachbarn zu legen hatten. Heute verdecken Straßen und ein Park die Weltgeschichtsnarbe von Babij Jar. Hier gibt es ein sowjetisches Ehrenmal, eine jüdische Gedenkstätte und wieder ein Stück weiter eines für Sinti und Roma. Erinnert wird hier getrennt und eher selten, am Donnerstagabend aber finden hier Völker und Religionsgruppen zusammen. In einer Senke, dem Massengrab, ist Musik zu hören, junge Leute singen, an einem Weg stehen 200 großformatige Fotos von Holocaust-Überlebenden. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, sonst kein Freund großer Besinnlichkeit, hat Bundespräsident Joachim Gauck eingeladen, Ungarns Präsidenten János Áder, EU-Ratspräsident Donald Tusk und Vertreter des Jüdischen Weltkongresses. Zwei Gäste aber fehlen. Israels Präsident Reuven Rivlin hat wegen des Todes von Schimon Peres abgesagt. Und Russlands Präsident Wladimir Putin, der hier als Vertreter der ehemaligen Sowjetunion stehen könnte, ist wohl unerwünscht. Das kriegerische Treiben im Osten der Ukraine, es wird sich auch in die Gedenkreden schleichen. Joachim Gauck hat schon 2014, am 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, mit Kritik an Russlands Regierung nicht gespart, auch damals wegen des Ukrainekonflikts. In Babij Jar nun will er vor allem versöhnen, sich selbst und die Deutschen, die lange nicht wissen wollten, was das war, der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. "In Babij Jar zwangen Sonderkommandos, geheime Feldpolizei und Angehörige der Waffen-SS ihre Opfer, sich zu entkleiden, ihre Wertsachen abzugeben, trieben sie mit Schlägen bis an den Rand der Schlucht und erschossen sie, Männer, Frauen, Kinder und Greise, 33 771 Menschen", sagt Gauck. Ein "einzigartiger Schreckensort" sei die Schlucht, die bis 1943 Hinrichtungsstätte blieb, auch für Sinti, Roma, ukrainische Nationalisten.

Erinnerung daran aber war lange unerwünscht. Die Deutschen versuchten vor ihrem Rückzug, die Mordspuren zu verwischen, später behaupteten sie, nur die SS sei für die Untaten verantwortlich. Eine Lüge, von der sich viele erst in jüngster Zeit und höchst widerwillig verabschiedeten. "Zum Blick in den Abgrund unserer eigenen Geschichte gehört das Eingeständnis, dass auch die deutsche Wehrmacht an diesen Verbrechen maßgeblich beteiligt war", sagt Gauck.

Den Hinweis auf ukrainischen Antisemitismus erspart der Präsident seinen Gastgebern

Verdrängt aber wurde auch in der Sowjetunion und in der heutigen Ukraine, wo man die Schlucht zuschüttete und verschwieg, dass die Opfer von 1941 Juden waren. Diesen Teil der Wahrheit, den antisemitischen, erspart Gauck seinen Gastgebern, sowie allzu deutliche Hinweise darauf, dass über die Hilfe der Ukrainer beim Morden hier nur ungern geredet wird. Der deutsche Gast will ohne Schulmeisterei auskommen, das merkt man. Aber er mag das "Nicht-wissen-wollen" und das "Kleinreden" auch nicht beschweigen. Es zu überwinden sei ein Werk für Generationen, das Deutschland geprägt habe. Heute wende sich das Land besonders Opfern zu, die "dem Unrecht, der Not und Verfolgung ausgesetzt waren oder sind". Er wolle hier, schiebt Gauck noch hinterher, "den Blick auch auf die heutige Ukraine" richten. Sie habe ihren Platz in der Familie der Völker, "als souveräne Nation in einem Staat, dessen territoriale Integrität zu achten ist". Ein Hieb gegen Putin ist das. Lauter aber mag Gauck nicht werden. "Das Böse kann nur durch das Gute Überwunden werden", wird Donald Tusk sagen, bevor die Staatsgäste aufbrechen. Dann laufen sie eine Allee entlang und stellen Kerzen ab. Am Wegrand stehen die Porträts der Überlebenden Spalier.

© SZ vom 30.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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