Überwachung:Wogen des Misstrauens

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Nach der Erfahrung der NS-Diktatur entwickelten viele Deutsche eine Aversion gegen staatliche Kontrolle - und wehrten sich. Gegen Wiederbewaffnung, Volkszählung und Online-Durchsuchungen.

Helmut Kerscher

Claus Heinrich Meyer, der große SZ-Journalist und Fotokünstler, hat den 60. Geburtstag seines Landes nicht mehr erlebt. Ein halbes Jahr vorher starb er, der als scharfer Beobachter eine Menge dazu hätte schreiben können. Eine Ahnung davon vermittelt sein quadratisches Mini-Buch "Kleines Deutschland". Es erzählt in wenigen Schwarzweißbildern sehr viel über Nachkriegsdeutschland - von Zechen-Bildern in Gelsenkirchen über ein Treffen Churchills mit Adenauer in Bonn bis zu einem Besuch von Königin Beatrix in München.

Überwachung in Düsseldorf:"Niemand kennt die Zahl der staatlich, halbstaatlich und privat betriebenen Überwachungskameras." (Foto: Foto: AP)

Ein Symbolbild der untergehenden DDR vom Januar 1990 zeigt eine Videokamera mit losen Kabeln gegenüber dem Palast der Republik in Berlin. "Kein Anschluss! Ausgerupfte Überwachungskamera", schrieb Meyer dazu.

Er muss sich beim Fotografieren großartig gefühlt haben, waren ihm doch die auch im Westen allgegenwärtigen Videokameras in U-Bahnhöfen oder Kaufhäusern in tiefster Seele zuwider. Nicht selten berichtete c.h.m in der SZ-Kantine mit den leuchtenden Augen des Lausbuben, welchen Kameras er heute wieder die Zunge herausgestreckt habe. Wie weiland Wilhelm Tell den Geßler-Hut nicht grüßen mochte, so wehrte sich der Citoyen Meyer auf diese Weise gegen die stille Zumutung.

Die Straßenszenen aus Düsseldorf (Foto) stehen symbolisch für die Myriaden von Bildern, die in jeder Sekunde irgendwo in Deutschland gespeichert werden. Niemand kennt die Zahl der staatlich, halbstaatlich und privat betriebenen Überwachungskameras. Sicher ist nur, dass sie seit dem 11. September 2001 fast allgegenwärtig sind. Schon vorher galt Großbritannien als "best überwachtes Land", das zu Beginn der Ära Blair kräftig aufgerüstet hatte. Zutreffend titelte die Neue Zürcher Zeitung: "Briten wollen gefilmt werden".

Von den Deutschen kann man dergleichen nicht behaupten. Die Nachkriegsgeschichte lehrt, dass nicht nur Leute der Generation von Claus Heinrich Meyer - geboren 1931, also aufgewachsen in der NS-Diktatur und Staatsbürger geworden in der Bundesrepublik - eine ausgeprägte Aversion gegen staatliche Kontrollen entwickelt haben.

Anders als die Briten hatten die Deutschen einen totalitären Staat erlebt, der seine Bürger tyrannisierte, die jüdischen von ihnen ermordete und einen schrecklichen Krieg zu verantworten hatte. Die Deutschen wollten, wenn es denn schon einen Staat geben musste, von ihm "Einigkeit und Recht und Freiheit" - keine Bevormundung mehr, kein Antasten der im Grundgesetz als Höchstwert genannten Menschenwürde. Abgrundtiefes Misstrauen gegen staatliche Eingriffe und die Bereitschaft zum Protest gehörten zum Erbe der Nazi-Zeit.

Diese Haltung entfaltete sich verblüffend schnell und heftig. Sie richtete sich gegen die neuen Herren, die Alliierten, und gegen die alten Herren - gegen Figuren wie den Minister Hans Globke oder den Regisseur Veit Harlan, die eben noch gegen die Juden gehetzt hatten. Schon bald trieben Misstrauen und Protest viele Westdeutsche auf die Straße, als Anfang der fünfziger Jahre die Wiederbewaffnung anstand. Wie die sowjetische Besatzungsmacht und die ostdeutsche Regierung auf Proteste reagierten, zeigte sich am 17. Juni 1953 bei der Niederschlagung des Volksaufstandes.

Black-Power, Frauen-Power, Flower-Power

Im Westen entwickelte sich in den sechziger Jahren, in den Jahren einer bisher einmaligen wirtschaftlichen Blüte, eine bisher unbekannte Protestkultur. Sie begann nach der Verhaftung von Spiegel-Redakteuren im Herbst 1962; nie wieder gingen so viele Menschen für die Pressefreiheit auf die Straße wie damals. Im selben Jahr kam es in München bei den "Schwabinger Krawallen" zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Tausenden Protestierenden und Polizisten.

Danach wuchs der nationale Zweig einer internationalen Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg, gegen Diktatoren, gegen bürgerliche Moralvorstellungen - und für Black-Power, Frauen-Power, Flower-Power. Sehr bald kam es in der Bundesrepublik zu einer Radikalisierung der Linken, nachhaltig befördert durch die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bei Protesten gegen den Staatsbesuch des Schahs von Persien sowie durch das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke im April 1968.

Die Begleitmusik insbesondere der Springer-Presse und die Bildung einer großen Koalition im Jahr 1966 trieben die Polarisierung voran. Nun war Deutschland nicht nur in Ost und West gespalten, sondern auch in eine bürgerliche Gesellschaft und in eine Außerparlamentarische Opposition (APO). Sie bekämpfte mit dem Staat den Kapitalismus und die Elterngeneration, beide zusammen unter dem spezifisch deutschen Protest gegen die "Notstandsgesetze". Mit ihnen wollten Union und SPD die alliierten Vorbehaltsrechte bei Gefahren für den inneren und äußeren Frieden abschaffen. Erstmals fungierte hier der Bundesinnenminister als Feindbild. Er hieß Ernst Benda, gehörte der CDU an und war durch seinen Einsatz gegen die Verjährung von NS-Morden bekannt geworden..

Der (erfolglose) Kampf gegen die Notstandsgesetze vergrößerte das Potential der radikalen Linken, insbesondere an den Universitäten. Wo sie die Mehrheit nicht hatte, brüllte sie diese nieder - beispielsweise im Münchner Audimax bei einem Besuch des ersten israelischen Botschafters in Deutschland, Asher Ben Natan, im Dezember 1969. Seinerzeit passierte der Mensa-Besucher ein Spalier von Gruppierungen, die per Flugblatt die Segnungen diverser kommunistischer Richtungen bis hin zum Stalinismus priesen. Vom Rest der Bevölkerung hatten sich diese Leute, einmal ganz abgesehen von den Terroristen der Roten Armee Fraktion, entfernt.

Polizistin bei der Videoüberwachung: Der Innenminister als Hauptfeind. (Foto: Foto: dpa)

Die RAF wollte dem Rechtsstaat die "Maske herunterzureißen". Auf deren Geiselnahmen, Freipressungsversuche, Hungerstreiks und Morde reagierte der Staat hart - etwa mit dem Kontaktsperregesetz oder der berüchtigten Rasterfahndung. Die letztlich einzigen Erfolge der Terroristen waren verschärfte Sicherheitsgesetze und aufgerüstete Polizisten.

Erst Mitte der siebziger Jahre kam es zu nennenswerten Berührungen zwischen dem studentischen Protestlager und skeptischen Bürgern. Ungläubig blickte die Republik im Frühjahr 1975 auf eine Koalition am Kaiserstuhl, wo badisch-elsässische Bürgerinitiativen mit Freiburger Studenten gegen das Atomkraftwerk Wyhl kämpften. Nach der Erstürmung und Besetzung des Bauplatzes wunderten sich angereiste Reporter über diese "abenteuerliche Armee", die das Projekt tatsächlich verhinderte. Wyhl markierte den Beginn einer alternativ-bürgerlichen Protest- und Umweltschutzbewegung, die sich im Januar 1980 in Karlsruhe auf die Gründung der Partei Die Grünen einigte.

Innenministermasken auf Demos

Diese mischte kräftig mit, als die nächste Protestwelle die Bundesrepublik erschütterte: der Kampf gegen die "Nachrüstung", also gegen das Aufstellen von neuen Atomraketen auf deutschem Boden im Jahr 1983. Spätestens angesichts dieser Friedensbewegung fragte man sich im Ausland, was denn in die Deutschen gefahren sei, die früher als Untertanen mit Hurra dem Kaiser und später dem "Führer" gefolgt waren. Nun wehrten sich Millionen auf Großdemonstrationen wie der im Bonner Hofgarten, als Teile von Menschenketten und mit Sitzblockaden gegen einen vom sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt herbeigeführten Beschluss.

Während die Justiz noch mit der Bestrafung von Tausenden Sitzblockierern beschäftigt war (die erst 1995 vom Bundesverfassungsgericht rehabilitiert wurden), erschütterte schon die nächste Woge des Misstrauens das Land: Zum Entsetzen braver Statistiker und ahnungsloser Politiker formierte sich ein so breiter wie tiefer Widerstand gegen die für 1983 geplante Volkszählung. Als Feindbild musste erneut der Innenminister herhalten, diesmal Friedrich Zimmermann (CSU). Eine Maske mit seinem Konterfei wurde zu einem der beliebtesten Utensilien der "Vobos", der Volkszählungsboykotteure.

Motiviert von der Angst vor einem allzu viel wissenden Staat und unterstützt von Datenschützern kam es zum Showdown vor dem Bundesverfassungsgericht. Das bestätigte unter Vorsitz des früheren Innenministers Benda den Volkszählungsgegnern, dass ihr Misstrauen im Kern berechtigt war. Erst im Jahr 1987 kam es zu einer abgespeckten Form der Volkszählung, die wiederum von Fundamental-Protesten begleitet wurde. Es blieb die Erkenntnis: Der Kampf gegen staatliche Eingriffe kann vor Gericht erfolgreicher sein als auf der Straße.

Konflikt von Freiheit und Sicherheit auf der Festplatte

Doch gänzlich unerwartet widerlegte in der DDR eine erstarkende Bürgerbewegung diese These. Vor allem dank der Straße - etwa bei den Leipziger Montagsprotesten oder der Ost-Berliner Großdemonstration - vertrieb sie mit Mut, Wut und Wucht das SED-Regime aus der Regierung. Die friedliche Revolution von 1989 schrieb das schönste Kapitel der deutschen Protestgeschichte.

Im vereinten Deutschland etablierte sich zwar die Demonstration als Mittel des Protests, zunehmend auch von Rechtsradikalen. Die Klagen in Karlsruhe gewannen aber an Bedeutung - so gegen die Einschränkung des Asylrechts im Jahr 1995 (erfolglos), gegen den "Großen Lauschangriff" im März 2004, gegen das Luftsicherheitsgesetz im Januar 2005 oder gegen die Online-Durchsuchung im März 2008 (jeweils überwiegend erfolgreich).

Dieser heimliche Zugriff des Staates auf Computer sowie die geplante "Vorratsdatenspeicherung" mobilisierten sogar eine als eher unpolitisch geltende Bevölkerungsgruppe: die Community der versierten User des Internets. Sie sahen in Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) ihren Hauptfeind, der im Konflikt von Freiheit und Sicherheit auch vor Festplatten und Verbindungsdaten nicht Halt machen wollte. Plötzlich war es wieder da, dieses sehr deutsche Misstrauen gegen die Obrigkeit, getragen von einer neuen Generation.

So wurde beispielsweise am 29. Januar 2009 aus sonst kreuzbraven Karlsruher Technikstudenten ein hoch aggressives Publikum, als sich Schäuble in das Audimax wagte. Die explosive Stimmung erinnerte ältere Beobachter an gesprengte Vorlesungen und Krawalle. Es blieb aber dann doch bei Zugriffen der Polizei im Vorfeld, bei Spruchbändern ("Let's get out of control!") und provozierenden Zwischenrufen. Schäuble konnte durch einen rhetorisch ungemein geschickten Auftritt die Emotionen bändigen und problemlos den Saal verlassen. Das Misstrauen freilich blieb

© SZ vom 23.05.2009/jab - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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