Türkei:Wendepunkt oder Sackgasse

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Der Protestmarsch von Ankara nach Istanbul war für die türkische Opposition ein Erfolg, aber bedeutet er auch einen Aufbruch? Prompt werden Akademiker festgenommen.

Von Mike Szymanski, München

Die neue Zeit, die der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu bei der Großkundgebung am Sonntag in Istanbul versprochen hat, fühlte sich am Montag dann doch sehr an wie die alte: Wieder mussten Akademiker ins Gefängnis. Die Polizei holte in Istanbul Wissenschaftler von zwei Unis ab, angeblich besteht Terrorverdacht. Unter den 42 Abgeführten soll sich auch Koray Çalışkan befinden, ein regierungskritischer Politikwissenschaftler der Boğaziçi Universität, der für linke Zeitungen schreibt und der Partei von Kılıçdaroğlu, der CHP, nahesteht.

Eine Taube für die Türkei: Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu stemmt sich gegen den Kurs von Präsident Erdoğan. (Foto: Yasin Akgul/AFP)

Hatte Kılıçdaroğlu nicht vor drei Wochen, als er sich zum Gerechtigkeitsmarsch von Ankara nach Istanbul aufgemacht hatte, gesagt: "Genug ist genug"?

Am Montag fiel es jedenfalls schwer zu sagen, was wirklich vom Gerechtigkeitsmarsch bleiben wird. In der regierungskritischen Presse wurde er als Moment gefeiert, der alles ändere, als Wendepunkt. Vor mehr als einer Million Anhänger hatte Kılıçdaroğlu zum Abschluss am Sonntag gesprochen. Ein bemerkenswerter Auftritt, denn seit den Gezi-Protesten 2013 hat sich die Opposition in der Öffentlichkeit nicht mehr so stark präsentieren können, auch wenn Parteisymbole nicht erwünscht waren. Der Marsch sei nur der Anfang, hatte Kılıçdaroğlu gesagt. Wenn man so will, hat ihm die Regierung am Montag mit der neuen Verhaftungswelle bestätigt, dass er tatsächlich noch am Anfang steht.

Am Sonntag versammelten sich in Istanbul Hunderttausende Anhänger. (Foto: Chris McGrath/Getty Images)

Es war der Tag, an dem Kılıçdaroğlu auch jenen Mann im Gefängnis besuchte, wegen dem er sich überhaupt aufgemacht hatte: der Parteifreund und Abgeordnete Enis Berberoğlu. Ein Gericht hat ihn zu 25 Jahren verurteilt, weil er Filmmaterial, das Waffenlieferungen der Regierung an Extremisten in Syrien belegen soll, an die Presse weitergegeben habe. "Wir hoffen, dass die Gerechtigkeit bald wiederhergestellt und er freigelassen wird", sagte Kılıçdaroğlu nach dem Besuch in der Haftanstalt. Bei der Abschlusskundgebung am Vortag hatte er den Leuten zugerufen, die "Mauer der Angst" einzureißen.

So bitter die Umstände aus seiner Sicht im Moment auch sein mögen, der Politiker erlebt gerade einen Höhenflug. Kılıçdaroğlu führt die säkulare Partei CHP seit 2010. Es gab einmal eine Zeit, da hat die Partei des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk das Land beherrscht und geformt wie es heute Erdoğan mit seiner AKP macht. Unter Kılıçdaroğlu kam die größte Oppositionspartei aber bei Wahlen über 25 Prozent zuletzt kaum hinaus. Wurde ihm seine friedvolle Art in der Vergangenheit als Schwäche ausgelegt, gilt sie seit seinem Protestmarsch quer durchs Land als Stärke. Er habe sich endlich als Anführer profiliert, die CHP erlebe unter ihm eine "Wiedergeburt" - solch euphorische Einschätzungen durfte er jetzt über sich in der Zeitung lesen. Die Kritik der vergangenen Monate scheint vergessen zu sein.

Seine CHP war es, die im Parlament mit der Regierung gestimmt hatte, die Immunität von Abgeordneten aufzuheben - jener Beschluss, der am Ende auch Berberoğlu ins Gefängnis brachte. Als Erdoğan im April per Referendum seine Präsidialverfassung gegen den Willen der Hälfte der Bevölkerung durchsetzte, forderten CHP-Anhänger noch seinen Rücktritt. Kılıçdaroğlu habe sich trotz Manipulationsvorwürfen mit dem Ergebnis abgefunden.

Argwöhnisch hatte die Regierung den Marsch verfolgt, der im Staatsfernsehen als "angeblicher Gerechtigkeitsmarsch" schlechtgemacht wurde. Präsident Erdoğan zog den Vergleich zu den Putschisten, die vor einem Jahr auf die Straße gingen, um die Regierung stürzen zu wollen. Aber den Gerechtigkeitsmarsch zu stoppen, traute sich niemand. Premier Binali Yıldırım ließ Kılıçdaroğlu ausrichten, dass mit der Kundgebung der Protest nun auch zu enden habe. Aber davon ließ sich der Oppositionschef nicht beeindrucken. Er habe erst angefangen, sagte er auf der Kundgebung. Der Marsch ist zu Ende. Aber die Spannung im Land bleibt. Ein AKP-Sprecher sagte am Montag, Kılıçdaroğlu betreibe ein "gefährliches Spiel", die Politik werde im Parlament gemacht, nicht auf der Straße. Die Nation werde sich zu wehren wissen, wenn er dem Land mit Protest auf der Straße drohe.

© SZ vom 11.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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