Türkei vor AKP-Entscheidung:Kulturkampf, nächste Runde

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Die türkische Justiz will die Regierungspartei AKP auflösen und stürzt das Land damit in eine Krise - jetzt verhandeln die Verfassungsrichter.

Kai Strittmatter, Ankara

Seine Partei liegt auf dem Schafott, und der Abgeordnete Suat Kiniklioglu fläzt in einem Ledersessel in den Hallen des Parlamentes. Er winkt Tee herbei, den bitteren schwarzen in den kleinen Tulpengläsern, den die Türken erst mit ein, zwei Stück Würfelzucker trinkbar machen. "Wie Sie sehen", sagt er, "sind wir hier sehr entspannt".

Vor einem riesigen Plakat von Kemal Atatürk demonstrieren Republik-Anhänger für eine säkulare, laizistische Türkei. (Foto: Foto: AFP)

Er stößt ein kurzes sarkastisches Lachen aus, dann erzählt er die Geschichte vom kleinen Sünder, der in die Hölle kam. Dort unten sah er inmitten des lodernden Feuers zwei Zellen voller verzweifelter Seelen. Doch nur vor einer stand ein Wärter. Warum denn vor der anderen keine Wache stehe, fragte er den Teufel. Der grinste. Für jenes Loch sei kein Wärter nötig. Da säßen nämlich die Türken drin. "Und die ziehen sich immer wieder selbst gegenseitig runter."

Dabei hätten sie es diesmal beinahe geschafft. Waren drauf und dran, ein normales Land zu werden. Eines, in dem die Regierung regiert und die Richter Recht sprechen und die Wirtschaft wirtschaftet und ein Kurde laut sagen darf, dass er Kurde ist. Mit ziemlichem Furor waren sie Richtung Normalität gestiefelt in den Jahren nach 2002, seit dem Amtsantritt der AKP.

Beim Wirtschaftswachstum haben sie alle Länder Europas überholt, in sechs Jahren haben sie mehr Auslandsinvestitionen ins Land gelockt als zuvor in den acht Jahrzehnten seit Gründung der Republik. Die Inflation haben sie von mehr als 100 auf unter zehn Prozent gedrückt, das Gesetzbuch demokratischer, das Land offener gemacht.

Wahrscheinlich ging es den Türken einfach zu gut. Posta, die größte Zeitung des Landes, äußerte diesen Verdacht letzte Woche unter dem Titel: "Wohlergehen langweilt uns". Stell' dir vor, hatte es in dem Kommentar geheißen: eine Türkei mit einer stabilen Regierung und einer gesunden Wirtschaft, eine Türkei, in der jeder sein Leben lebt, egal zu welchem Volk, egal zu welcher Weltanschauung er sich zählt. Kurzum: "Eine Türkei, in der sich die Leute nicht die Augen auskratzen." Kurze Atempause. Dann: "Deprimierend langweilig, oder?"

Denkverbote am Horizont

Jetzt ist er zurück, der Kitzel. Die alte Türkei mit ihrer Instabilität, ihren Denkverboten steht am Horizont. Der türkische Staat, den die Zeitung Referans "Weltrekordhalter im Parteienverbieten" nennt, weil es 18 Verbote seit Inkrafttreten der letzten Verfassung 1982 gab, schlägt wieder zu. Diesmal aber geht der Staat daran, sich selbst zu übertreffen: Wenn die Verfassungsrichter an diesem Montag in Ankara zusammentreten, beraten sie darüber, ob sie die Regierungspartei AKP verbieten sollen.

Eine Partei, die vor einem Jahr wiedergewählt wurde, mit triumphalen 47 Prozent. Die einzige Volkspartei, die im reichen Istanbul ebenso gewählt wird wie im bettelarmen Van im Südosten, von Türken wie von Kurden. Und weil Generalstaatsanwalt Aburrahman Yalcinkaya die Auslöschung der Partei nicht genügt, hat er den Antrag gestellt, Ministerpräsident Tayyip Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül und 69 weiteren AKP-Funktionären auch als Individuen die Parteipolitik für fünf Jahre zu untersagen.

Als Beobachter kneift man sich seit März jeden Morgen von neuem in die Nase, wundert sich über die scheinbare Nonchalance, mit der gewöhnliche Türken, ja gar die AKP hinter all den Hahnenkämpfen auf ihre geplante Hinrichtung reagiert. "Wirklich überrascht war ich nicht", behauptet der AKP-Abgeordnete Suat Kiniklioglu. "Wir sind an solche Dinge gewöhnt." Er nimmt einen Schluck Tee. "Willkommen in der Türkei."

Nicht alle sind so gelassen, und das liegt nicht nur am Vizevorsitzenden des Verfassungsgerichtes, Osman Paksüt, der prophezeit hatte, nach dem Urteil seines Gerichtes werde "die Hölle losbrechen". Der Ausgang des Verfahrens, vor allem aber die Folgen sind unvorhersehbar. Und zwar egal wie das Urteil lautet.

Selbst wenn die AKP dem Fallbeil noch entschlüpft - was durchaus möglich ist, womit im Moment jedoch nur wenige rechnen -, so ist der Schaden schon angerichtet. Armee und Verfassungsgericht haben sich selbst diskreditiert, Regierung und Parlament sind handlungsunfähig. "Der AKP sind schon durch die letzten Urteile des Gerichtes beide Hände und beide Beine gebrochen", sagt ein Verfassungsjurist in Ankara.

Auf der nächsten Seite: Mit welchen Argumenten der Generalstaatsanwalt die AKP verbieten will.

Die einen meinen, man werde sich schon durchwurschteln, so wie man sich immer durchgewurschtelt habe. Den anderen graut davor. "Das wirft uns zurück auf Start", sagt der Politikwissenschaftler Ibrahim Kalin vom Forschungsinstitut Seta in Ankara. "Zurück zu den Zeiten von politischem Chaos und Wirtschaftskrise. Dazu riskieren wir den Kollaps des demokratischen Systems und unsere internationale Glaubwürdigkeit." Die Menschen verlieren den Glauben in die Demokratie, befürchtet Kalin: "Wenn du sie ständig abwatscht für ihre Wahl, dann wenden sie sich irgendwann ab." Die Kurden zum Beispiel: Sie haben bei den letzten Wahlen nur für zwei Parteien gestimmt, für die AKP und für die Kurdenpartei DTP. Auch gegen die DTP läuft ein Verbotsverfahren. "Was sagen wir ihnen damit, wenn wir all ihre Stimmen auslöschen?", fragt Ibrahim Kalin: "Geht halt zur PKK?"

Türkische Polizisten vor dem Verfassungsgericht in Ankara (Foto: Foto: AFP)

Die Türkei durchlebt gerade ihre größte politische Krise seit dem Militärputsch von 1980. Wo die einen den Absturz fürchten, sehen andere auch die Chance zur Katharsis, zur dringend nötigen Reinigung des Systems - und zwar nicht von der AKP, sondern von jenen Mächten, die ihren Untergang betreiben, vom autoritären Ballast der Vergangenheit. Wer behält Recht?

Der Generalstaatsanwalt sagt, es gehe um die Rettung des Säkularismus in der Türkei. In Wahrheit geht es wohl mehr um die Rettung von Macht und Privilegien der Kemalisten, jener selbsternannten Erbwalter von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk. Die Anklageschrift wirft der AKP vor, sie plane eine "Konterrevolution" und wolle die Türkei "in ein von der Scharia regiertes Land" verwandeln.

Zum Beweis führt der Staatsanwalt allen Ernstes solche Zitate von Premier Erdogan an: "Die Türkei als modernes muslimisches Land kann ein Vorbild werden für die Harmonie zwischen den Zivilisationen." Oder jene von Präsident Abdullah Gül, der für die Kopftuchfreiheit an Universitäten wirbt: "Jede Frau sollte selbst entscheiden dürfen, ob sie ihren Kopf bedeckt oder nicht. Verbote, die es in Paris oder London nicht gibt, sollte es auch in der Türkei nicht geben."

Die Sprache des Staatsanwaltes ist auch dort verräterisch, wo sie die "internationale Untertützung" für die AKP - also durch die USA oder die EU, wo der Prozess mit Entsetzen kommentiert wurde - ebenso beklagt wie die perfide Taktik der AKP, sich "hinter Konzepten wie Menschenrecht, Demokratie, Meinungs- und Religionsfreiheit zu verstecken". Das nämlich sei exakt der Punkt, glauben viele Liberale: "Die größte Bedrohung für das alte System ist die liberale Demokratie", sagt Murat Belge, ein Istanbuler Schriftsteller und Altlinker: "Der angebliche Kampf gegen den Islamismus ist nur ein Deckmantel, unter dem die alte Elite gegen die Demokratie vorgeht." Ergun Özbudun, Juraprofessor aus Ankara, stimmt dem zu: "Der Scharia-Vorwurf ist Unsinn. Bestimmte Kreise im Land wollen einfach nicht, dass Kurden oder gläubige Muslime an Freiheit und Macht gewinnen."

Ergun Özbudun ist der bekannteste Verfassungsrechtler der Türkei. Ein Liberaler, der sich selbst einen "gestandenen Säkularen" nennt. Er spricht von der islamistischen Vergangenheit einiger AKP-Führer und davon, dass sie damals "ziemlich lächerliche Dinge gesagt haben". Und dennoch glaubt Özbudun Premier Erdogan und Präsident Gül, wenn sie sich heute zu Säkularismus und Demokratie bekennen: "Sie haben mir in sechs Jahren Regierung keinen Anlass zum Zweifel gegeben." Die Anklage des Staatsanwaltes, meint er, sei "schwach und juristisch unhaltbar". Aber, fügt er resigniert hinzu, das mache keinen Unterschied. "Und das ist die Tragödie der Türkei. In diesem Land darf das Verfassungsgericht gegen die Verfassung verstoßen - und keiner kann etwas dagegen tun. Die Richter hier sehen sich nicht als Hüter von Recht und Gesetz, sondern als Hüter des kemalistischen Staates."

Die ehemalige Avantgarde

Einst waren die Kemalisten die Avantgarde des Landes, wollten es nach Westen öffnen. Heute sind sie ein trauriger Anblick, steckengeblieben in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Verteidigen noch immer den Staat gegen das Individuum, kämpfen noch einmal die Schlachten von damals - bloß sind sie heute die Reaktionäre, agitieren gegen EU und Demokratie, gegen Öffnung und Auslandsinvestoren.

Dabei sehen sie sich nicht mehr wie früher einer folgsamen Schafherde gegenüber, sondern einer bunten, kraftvollen, emanzipierten und auch urbanen Gesellschaft. Weil die Städte sich stets einen feuchten Kehricht ums anatolische Hinterland scherten, ist Anatolien in die Städte gezogen. Und mit ihm all die Kopftuchfrauen und Bauern, die nun als neue Städter ihr Glück versuchen und als Geschäftsleute reüssieren - die Klientel der AKP.

Wenn ein Hürriyet-Kolumnist spottet über den Pöbel, "der sich den Bauch kratzt" und ein Istanbuler Model sich ereifert, wie ungerecht es sei, dass "die Stimme eines Berghirten so viel zählt wie meine", dann sind das Abwehrreflexe des alten Republikadels, der noch bis vor kurzem den Staat unter sich aufteilen durfte und heute um seine letzten Bastionen in Justiz, Armee und Bürokratie bangt. "Das ist das Ancien Régime", meint ein liberaler Jurist in Ankara.

Ergun Özbudun ist nicht in der AKP, doch hat die AKP ihn im letzten Jahr beauftragt, eine neue Verfassung zu schreiben. Eine, die endlich die existierende ablösen soll, die noch den Geist des Militärputsches von 1980 atmet. Und er hat sich hingesetzt und eine geschrieben. Eine, die nicht länger den Staat vor dem Individuum, sondern das Individuum vor dem Staat schützt, eine, in der die Menschenrechte Vorrang vor türkischen Gesetzen haben. Die Kemalisten haben aufgeheult. Die AKP hat gekniffen und den Entwurf in die Schublade gesteckt. Das war nicht ihr einziger Fehler.

"Sie haben es nicht geschafft, den Leuten die Ängste zu nehmen", sagt Özbudun. "Ängste, die - egal ob begründet oder nicht - für zwanzig Prozent der Türken real sind. Von Kind auf werden sie den Türken eingeimpft: die Angst vor Islamisten, die Angst vor Kurden." Özbudun erlebte Freunde, die nicht glauben konnten, dass er für die AKP eine Verfassung schrieb. "Das Schlimmste", sagt er, "war, dass ich ihnen nicht erklären konnte, dass ich nicht für die AKP, sondern für die Demokratie arbeite. Ich fühlte mich wie Ende der siebziger Jahre. So gespalten ist dieses Land. Eine Verständigung zwischen den Lagern ist fast unmöglich."

Der Abgeordnete Suat Kiniklioglu kennt dieses Misstrauen. Dabei ist er ein Grenzgänger. Er stammt aus einer kemalistischen Familie. Er war Pilot bei der Luftwaffe, Chef des German Marshall Fund in der Türkei, bevor er zur AKP ging. "Meine Frau trägt kein Kopftuch. Ich trinke Alkohol", sagt er. "Eigentlich sollte das egal sein. Aber das Traurige ist: Seit ich bei der AKP bin, trinke ich mehr als vorher, weil auf den Empfängen alle gucken: Was macht der AKP-Mann? Rührt er Alkohol an?" Dieses Land, seine geliebte Türkei, sagt Kiniklioglu, sei schlicht paranoid. Das erinnert an den Satz, mit dem Verfassungsschreiber Özbudun uns ins gleißende, vom Bosporus auf die Stadt Istanbul zurückgeworfene Licht verabschiedet hatte: "Die Türkei braucht keine Juristen. Die Türkei braucht einen Psychiater."

© SZ vom 28.7.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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