Türkei:UN-Rüge für Ankara

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Nach einem Besuch in der Türkei zeichnet ein UN-Sonderberichterstatter ein düsteres Bild. Der abgewendete Putsch und der PKK-Terror bedeuteten nicht, dass die Regierung einen "Blankoscheck" habe, um die Meinungsfreiheit einzuschränken.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Der UN-Sonderberichterstatter zur Meinungsfreiheit, David Kaye, hat nach einer einwöchigen Visite in der Türkei ein katastrophales Bild der Lage gezeichnet. Zwar habe das Land, das einen Putschversuch überstanden habe und sich einerseits vom Terror durch die Separatistenorgansition PKK und andererseits durch die Islamisten des IS bedroht fühle, das Recht, sich zu schützen. "Das bedeutet aber nicht, dass die Regierung einen Blankoscheck hat, alles unternehmen zu können, um die Meinungsfreiheit einzuschränken." Kaye, der als unabhängiger Experte dem UN-Menschenrechtsrat Bericht erstattet, war von der türkischen Regierung eingeladen worden, sich im Land zu informieren.

Das Vorgehen gegen Kritiker und gegen Medien unter dem erklärten Ausnahmezustand kritisierte Kaye als "unverhältnismäßig und unnötig". Zudem bedauerte er, dass ihm die Regierung nicht zu allen Journalisten und Schriftstellern in Haft, die er sehen wollte, Zugang gestattete. Unter anderem blieben ihm Treffen mit der preisgekrönten Autorin Aslı Erdoğan und mit Murat Sabuncu, dem Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet verwehrt. Sprechen wollte der Experte auch Aydın Sefa Akay, wegen Terrorverdachts inhaftierter UN-Richter, für den eigentlich Immunität gilt und dessen Schicksal jüngst Thema in der Generalversammlung der Vereinten Nation in New York war. Erlaubt wurden ihm Gespräche mit insgesamt fünf inhaftierten Journalisten und der Autorin und Linguistin Necmiye Alpay.

Ihren Fall nahm Kaye zum Anlass, die Verhältnismäßigkeit der Strafen zu hinterfragen. Die Frau wird bald 70. Sie war im Beratergremium der inzwischen von der Regierung geschlossenen kurdischen Zeitung Özgür Gündem tätig. Sie habe im Gefängnis immerhin Zugang zu Büchern, Stiften und Papier. Das gelte nur eingeschränkt für ihre Kollegen, die Kaye besuchen konnte. Sie hätten tagelang keinen Anwalt sprechen können, wären im Unklaren gelassen worden über die Gründe für ihre Verhaftung und seien mitten in der Nacht dem Gericht vorgeführt worden. Insgesamt seien derzeit 155 Journalisten im Gefängnis. Durch die Schließung zahlreicher Zeitungen und Sender seien 3000 Journalisten arbeitslos geworden.

Nachdem Anfang des Monats die beiden Vorsitzenden und zahlreiche Abgeordnete der kurdischen Oppositionspartei HDP festgenommen worden waren, blieb den Türken stundenlang der Zugang etwa zu Facebook, Twitter und Whatsapp verwehrt. Der Südosten des Landes, so Kaye, habe so gut wie keinen Zugang mehr zu Informationen gehabt.

Nach seinen Gesprächen mit Behördenvertretern, Journalisten und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen habe er den Eindruck, das Hauptproblem liege im Gesetzeswerk. Es fehle an Rechtsklarheit. Die Behörden erklärten ihm, sie wollten Aufstachelung zu Gewalt unterbinden. Die Sicherheitsgesetze würden jedoch in Bezug auf Terror-Unterstützung weit ausgelegt und als Grundlage genommen, Berichterstattung zu kriminalisieren. Die Regierung stelle Menschen unter Terrorverdacht, bleibe aber Beweise schuldig, kritisierte Kaye. Schlimm sei die Situation nicht nur für Journalisten, sondern auch für Akademiker. Einem TV-Bericht zufolge soll allein am Freitag wieder die Verhaftung von mehr als 100 Wissenschaftlern angeordnet worden sein. Kaye forderte die Regierung zu einem sofortigen Kurswechsel auf. Die inhaftierten Journalisten müssten umgehend freigelassen werden.

Unterdessen bemüht sich das EU-Parlament darum, den abgesagten Besuch von Abgeordneten in der Türkei möglichst bald nachholen zu können. "Es ist wichtig, dass wir im Dialog bleiben, mit der Regierung und mit der Opposition, und uns einsetzen für bedrohte und inhaftierte Abgeordnete", sagte der Chef des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, Elmar Brok (CDU), der Welt. Die Türkei-Berichterstatterin des Europaparlaments, Kati Piri, wird derzeit von der Regierung in Ankara nicht empfangen. Kommende Woche will das EU-Parlament darüber diskutieren, die Beitrittsverhandlungen mit Ankara einzufrieren.

© SZ vom 19.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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