Türkei:Mit der Trauer kommt der Zorn

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Am Samstag erlebt die Türkei den zehnten schweren Anschlag innerhalb eines Jahres. Was folgt, ist fast schon Routine: Während die Angehörigen trauern, schwört der Staat Rache - und verhaftet Hunderte Kurden.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Der Kummer erreicht das ganze Land, teils kommt er im Leichenwagen. In Malatya wird am Montag der Polizist Hamdi Dikmen, 29, zu Grabe getragen. Dikmen war erst seit drei Monaten Polizist. Am Samstagabend hatte sein Team Dienst am Beşiktaş-Stadion. Sie sollten die Partie des Fußballmeisters gegen den Rivalen Bursaspor schützen. Ein Risikospiel, aber alles blieb friedlich. Anderthalb Stunden nach Abpfiff sitzt er am Steuer des Polizeibusses, die Kollegen sind fertig. Aber dann steuert ein mit Sprengstoff beladenes Auto auf die Einheit zu. Die Explosion reißt mindestens 44 Menschen in den Tod. Vor allem Polizisten, Dikmen und seine Kollegen aus allen Teilen des Landes.

Dikmens Familie hält den Schmerz nicht aus, einige Angehörige brechen bei der Trauerzeremonie zusammen. In der Stadt Şanlıurfa werden die Polizisten Mehmet Taş, 24, und Enes Çiçek, 21, begraben. Einige aus der Trauergemeinde brüllen: "Nieder mit der PKK!" Am Abend zuvor hatte sich ein Ableger der kurdischen Terrororganisation, die Gruppe TAK, zu dem furchtbaren Anschlag bekannt.

"Ich will nicht, dass mein Sohn ein Märtyrer ist", sagt ein Vater. "Er ist ermordet worden."

Die Türkei hat in diesem Jahr schon so viele Attentate erlebt. Terror von allen Seiten, wenn man so will: Mal die PKK, mal der sogenannte Islamische Staat. Zählt man die größten Attacken, kommt man auf zehn allein in 2016, die Zahl der Toten erreicht mehrere Hundert. Für Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Regierung sind alle Todesopfer Märtyrer. Der "Umsonst"-Hügel am Beşiktaş-Stadion, der so heißt, weil man früher von hier aus Fußball gucken konnte, ohne zahlen zu müssen, soll jetzt Märtyrer-Hügel heißen. Der Vater von Berkay Akbaş aber will nicht akzeptieren, dass sein 21-jähriger Sohn, ein Medizinstudent, Märtyrer sein soll. Er war zum Feiern nach Istanbul gekommen und mit dem Taxi am Stadion unterwegs, als der Sprengsatz detonierte. "Das ist alles. Nur das. So einfach, so billig. Deshalb soll er ein Märtyrer sein? Nein, ich will das nicht. Mein Sohn ist ermordet worden."

Am Tatort in Istanbul versammeln sich am Montag den ganzen Tag über Trauernde. Morgens kommen die Generalkonsule aus mehr als 20 Ländern, um Beileidswünsche zu überbringen. Das Fernsehen zeigt Aufnahmen, wie Fußballspieler am Wochenende am Rande des Spielfeldes Polizisten in den Arm nehmen. Am Montagabend wollte die Gruppe Çarsı gegen den Terror auf die Straße gehen, die Ultras von Beşiktaş. "Der Protest gegen den Terror wächst wie eine Lawine", berichtet der türkische TV-Sender CNNTürk.

Innenminister Süleyman Soylu spricht am Montag vor einer Polizeieinheit in Istanbul. "Egal, wie der Anschlag begründet wird, wer ihn im In- und Ausland unterstützt hat, der wird erbarmungslos zur Rechenschaft gezogen. Was das bedeutet, haben teils noch vor Sonnenaufgang Mitglieder der kurdischen Partei HDP zu spüren bekommen. Bei landesweiten Razzien sind mehr als 200 ihrer Mitglieder und teils ranghohe Funktionäre festgenommen worden. Die Behörden werfen ihnen unter anderem vor, über soziale Medien "terroristische Propaganda" verbreitet zu haben. Das Parteigebäude in Istanbul wurde türkischen Medienberichten zufolge verwüstet. Bücher und Büromaterial lagen auf dem Boden verstreut. An den Wänden der Spruch: "Wir sind gekommen. Ihr ward nicht da." Soylu sagte, es habe keinen Sinn, sich hinter Parteien, Politikern und Medien zu verstecken.

Die Regierung hält die HDP für den verlängerten Arm der PKK. Sie hatte 2015 unter ihrem charismatischen Vorsitzenden Selahattin Demirtaş den Einzug ins Parlament geschafft und galt als Hoffnung auf eine friedliche Beilegung des Kurdenkonflikts. Als die Gewalt durch die PKK wieder aufflammte, fiel es ihr jedoch schwer, sich vom Terror zu distanzieren. Parlamentarisch ist die Partei kaum noch in der Lage zu arbeiten, nachdem die Justiz die Abgeordneten mit Anzeigen überzogen und das Parlament die Aufhebung der Immunität zugestimmt hat. Demirtaş und die Ko-Chefin der Partei, Figen Yüksekdağ, sitzen seit Anfang November in Haft.

Am Montag macht die HDP öffentlich, dass Demirtaş am Samstag Herzprobleme hatte. Am Montag meldet er sich dann mit einer handgeschriebenen Botschaft aus dem Gefängnis zu Wort. Er verurteile den grausamen Anschlag aufs Schärfste. Und dann bittet er darum, den Wunsch nach Frieden, die Hoffnung darauf nicht aufzugeben. So "schwer die Umstände" auch sein mögen.

Kanzlerin Merkel verfolgt aus der Ferne, was in der Türkei vor sich geht. "Das Attentat ist schon sehr dramatisch gewesen", sagt sie am Montag. Am Sonntag hatte sie Erdoğan am Telefon noch Hilfe im Anti-Terror-Kampf angeboten. Jetzt sagt sie: Die Aufklärung solcher Anschläge müsse "im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit, der Verhältnismäßigkeit" erfolgen.

© SZ vom 13.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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