Türkei:Mit aller Macht zum Militär

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Die Türkei geht brutal gegen Kriegsdienstverweigerer vor. Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Vorgehen verurteilt, ändert nichts an der Situation.

Kai Strittmatter, Istanbul

Sie warteten schon auf ihn. Am Bosporus, an der Uferstraße, inmitten der Sonntagsflaneure. Männer in Zivil. Gingen auf ihn zu, verlangten seinen Ausweis. "Weshalb?", fragte seine Freundin. "Er sieht aus wie einer, der gesucht wird", antworteten sie. Mehmet Bal wusste all die Jahre, dass der Moment kommen würde. Einen mächtigeren Feind als die Armee kann man nicht haben in diesem Land.

"Hier werden alle Kinder zu Soldaten erzogen", sagt Verweigerer Bal. (Foto: Foto: AP)

Irgendwann, wenn die Türkei nicht mehr bloß eine halbe Demokratie ist, wird sich ein Filmemacher finden, der sich dieses Lebens annehmen wird. Mehmet Bal, 33 Jahre alt, hat zuletzt als Puppenmacher in Istanbul gelebt. Außerdem schrieb er Buchkritiken für Radikal, das Leib- und Magenblatt der liberalen Intellektuellen.

Mehmet Bal, der Pazifist und Buchkritiker. Der noch vor einigen Jahren nicht gewagt hatte, ein Buch aufzuschlagen. "Ich fürchtete, ich könnte etwas verlieren" - seine alten Überzeugungen. Da war er noch Mehmet Bal, der arbeitslose Automechaniker. Mehmet Bal, der Rechtsradikale. Mehmet Bal, der Mörder. Der im Gefängnis saß, lebenslang, weil er mit Freunden einen Juwelier erschlagen hatte. Im Gefängnis noch erlebte er seine Katharsis: Bal wurde Pazifist, und als die Regierung 2002 eine Amnestie erließ, da war das Erste, was er in Freiheit tat: Er verweigerte den Kriegsdienst.

Diese Woche wird dem Drehbuch ein weiteres Kapitel hinzugefügt. Mehmet Bal verbrachte die erste Nacht in Gewahrsam der Gendarmerie. Um neun Uhr weckten sie ihn, indem sie heißes Wasser über ihn gossen. Dann brachten sie ihn ins Istanbuler Militärgefängnis Hasdal.

Der Offizier stieß ihn in eine Zelle, in der 20 Häftlinge saßen, allesamt Soldaten, und rief: "Erinnert ihn an die Regeln." Das taten die anderen, mit Fäusten und mit einem Holzscheit. "Wie? Du willst keine Uniform tragen?", riefen sie, am Ende hatten sie ihn krankenhausreif geprügelt. "Er kann seinen Fuß nicht mehr bewegen, hatte Schwierigkeiten zu hören und zu sehen", sagt die Anwältin Gülseren Yoleri, die Bal im Krankenhaus besuchte.

Und das alles, weil Bal kein Soldat sein will. Mehmet Bal nennt sich Kriegsdienstverweigerer. Die Türkei aber kennt offiziell keine Verweigerer. "Hier werden alle Kinder zu Soldaten erzogen", hat Bal einmal gesagt. So unvorstellbar ist der Tatbestand der Verweigerung, dass sich dafür gar kein Wort im Strafgesetzbuch findet.

Für den Staat ist Mehmet Bal ein Deserteur. Und damit gefangen in jenem Teufelskreis, in dem sie alle stecken, die rund 60 jungen Männer, die es ihm gleichtun: Wer hier den Dienst verweigert, wird dem Richter vorgeführt. Ist die Strafe abgesessen, wird er zur Kaserne befohlen. Beharrt er auf der Verweigerung, geht es zurück zum Richter. Und so weiter.

Osman Ülke hat den Kreislauf jahrelang mitgemacht, ging neun Mal ins Gefängnis. Dann hat er die Türkei verklagt, vor dem Menschenrechts-Gerichtshof in Straßburg. Und einen historischen Sieg errungen: Das Gericht verurteilte die Türkei dazu, ihre Gesetze zu ändern.

Einen Menschen wegen ein und demselben Delikt wieder und wieder zu bestrafen, verurteile die Betroffenen zu einem "zivilen Tod": Menschen wie Bal und Ülke leben ein Leben im Schatten, fürchten ständig die Festnahme, meiden jeden Kontakt zu Behörden.

Ülke hat sich nie als Vater seines fünfjährigen Sohnes eintragen lassen. Das Straßburger Urteil erging 2006. "Bis heute ist nichts geschehen", sagt Ülke. Alle zwei Monate tagt das Ministerkomitee des Europarates, um zu überprüfen, welche Länder die Urteile aus Straßburg umgesetzt haben, alle zwei Monate wird die Türkei ermahnt. Routine ist auch die Antwort aus Ankara: Die Gesetze seien "in der Vorbereitung". Die Regierung, glaubt Ülke, scheue den Konflikt mit der Armee. "Angesichts des Machtkampfes, der momentan tobt, haben Fälle wie unsere ohnehin kein Gewicht."

Ülke ist ein Freund von Bal. Auch er ist offiziell ein Deserteur, auch er hat darauf gesetzt, dass die Behörden wohl wissen, wo er lebt, aber im Zuge des EU-Beitrittsprozesses keine unnötigen Schlagzeilen riskieren wollten. Der Sicherheitsapparat zumindest scheint nun solche Zurückhaltung nicht mehr für nötig zu halten. "Ich mache mir Sorgen um Mehmet", sagt Osman Ülke. Die Anwältin sagt, Bal habe große Angst davor, wieder zurück ins Gefängnis verlegt zu werden. Angst vor weiteren Misshandlungen. Am Dienstag ist Mehmet Bal in Hungerstreik getreten.

© SZ vom 12.6.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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