Türkei:Mit 21 Punkten zum Sieg

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Das türkische Parlament berät eine Verfassungsreform, die das Land grundlegend verändern würde: Durch sie würde aus Erdoğan nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich ein überstarker Präsident - wenn das Volk zustimmt.

Von Luisa Seeling, München

Die Abgeordneten haben gewichtige Fragen zu klären, es geht ums große Ganze, die Zukunft der Türkei. Zuerst aber gibt es Streit um die Sitzplätze. Der Raum platzt aus allen Nähten, Journalisten sind da, NGO-Vertreter. Einige Parlamentarier wollen das Treffen in einen größeren Saal verlegen. "Das ist keine Kleinigkeit", klagt ein Sozialdemokrat der CHP. Sollen die Abgeordneten das Schicksal des Landes etwa im Stehen verhandeln?

Auch die prokurdische HDP beharrt: Eine Verfassungsänderung - so etwas könne man nicht hinter verschlossenen Türen besprechen. Und überhaupt: Soll das eine demokratische Diskussion sein, mit einem Dutzend HDP-Abgeordneten im Gefängnis, einem Land im Ausnahmezustand? Am Ende setzt sich Mustafa Şentop von der AKP durch, der Vorsitzende des Ausschusses: Der Sitzungssaal sei groß genug, die Presse möge bitte den Raum verlassen.

Am Dienstag hat der Verfassungsausschuss der türkischen Nationalversammlung die Arbeit aufgenommen. Die Sitzplatz-Episode zeigt, wie verhärtet die Fronten sind: Hier die Regierungspartei, die den 21 Punkte umfassenden Entwurf eingebracht hat. Dort die beiden Oppositionsparteien, die ihn verhindern wollen.

Schafft es der Entwurf durchs Parlament und wird er dann bei einer Volksabstimmung angenommen, könnte er tatsächlich das Ende der "140 Jahre alten parlamentarischen Tradition" des Landes bedeuten, wie CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu warnt. Erdoğan, seit dem Putschversuch am 15. Juli und der Ausrufung des Ausnahmezustands ohnehin faktischer Alleinherrscher, wäre am Ziel: Die Türkei würde zum Präsidialsystem.

Seit Jahren arbeiten er und die AKP auf die Reform hin, scheiterten aber bisher am Widerstand der Opposition. Und an den Wählern, die der konservativ-islamischen Partei zwar Wahlsiege, aber nicht die nötige Zweidrittelmehrheit bescherten. Nun aber gibt es einen Deal mit der ultrarechten MHP. Mit ihr käme die AKP auf mindestens 330 Stimmen. Das ist im 550-köpfigen Parlament keine Zweidrittelmehrheit, aber reicht, um ein Referendum anzusetzen. Schon im März könnte es so weit sein, der Verfassungsausschuss hat 45 Tage Zeit, um Änderungsvorschläge zu diskutieren, dann muss er seinen Bericht vorlegen.

Nur mit einem starken Präsidenten erreiche man Stabilität, meinen Recep Tayyip Erdoğan und seine Anhänger. Wie die Mehrheit der Türken diese Frage beantwortet, könnte bald ein Referendum zeigen. (Foto: Osman Orsal/Reuters)

Die Pläne hatten nach Erdoğans Direktwahl zum Staatsoberhaupt 2014 an Fahrt aufgenommen. Als Premier hatte er jahrelang durchregiert, nun fühlte er sich im rein repräsentativen Amt eingeengt. Wirklich gebremst hat ihn das aber nicht: Erdoğan mischte auch als Präsident im Tagesgeschäft mit. Spätestens seit dem Putschversuch ist seine Macht unangefochten.

Doch ein Präsidialsystem würde ihm das Regieren erleichtern - und ihn aus der rechtlichen Grauzone holen. Eigentlich darf der Präsident keiner Partei angehören, soll neutral sein. Formal trat Erdoğan 2014 aus der AKP aus. In der Praxis führte er aber Parteivorsitz und Regierungsgeschäfte weiter. Den Rechtsbruch verteidigt er bemerkenswert: Die Türkei habe faktisch längst ein Präsidialsystem, nun müsse die Verfassung angepasst werden.

Mit der Änderung würde das Prinzip der Überparteilichkeit abgeschafft. Erdoğan könnte an die Spitze der AKP zurückkehren. Er stünde allein an der Staatsspitze, das Amt des Premiers soll entfallen. Von seinem Recht, zwei Stellvertreter zu ernennen, könnte MHP-Chef Devlet Bahçeli profitieren. Die Befugnisse des Präsidenten würden massiv ausgeweitet, Regieren durch Dekret würde erleichtert. Erdoğan könnte Referenden ansetzen, den Notstand ausrufen, Neuwahlen für das Parlament und das Präsidentenamt anberaumen. Auch fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte (HSYK) dürfte der Präsident bestimmen, jenes zwölfköpfigen und eigentlich unabhängigen Gremiums, das für die Organisation der Justiz zuständig ist. Im HSYK sitzt auch der Justizminister - der Einfluss der Exekutive auf die Justiz ist evident. Der Staatschef würde auch die Mehrheit der Verfassungsrichter bestimmen.

Einige Änderungen gelten als Zugeständnisse an die MHP, etwa die Erweiterung des Parlaments um 50 Sitze: Sie soll die Chancen der Nationalisten erhöhen, bei den nächsten Wahlen in die Kammer einzuziehen. Und: Die Aufnahme eines Amtsenthebungsverfahrens des Präsidenten soll mit Zweidrittelmehrheit möglich sein. Die AKP hätte ein Quorum von vier Fünfteln bevorzugt.

Erdoğan und seine Anhänger argumentieren, Stabilität könne nur durch einen starken Präsidenten erreicht werden, verweisen auf die USA und Frankreich. Tatsächlich gebe es einige Parallelen, meint Christian Rumpf, Honorarprofessor für türkisches Recht an der Universität Bamberg. Aber die Mischung sei gefährlich und anfällig für Missbrauch durch machtbewusste Persönlichkeiten. Ein türkischer Verfassungsrechtler fasst das AKP-Projekt so zusammen: Von einem echten Präsidialsystem könne keine Rede sein, hier führe die Stärkung des Präsidenten noch viel weiter. Das Prinzip der Gewaltenteilung werde aufgehoben.

Die Reform soll im November 2019 in Kraft treten, wenn - auch neu - Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gleichzeitig stattfinden. Der Präsident kann zweimal für je fünf Jahre gewählt werden. Unklar ist, ob die Zählung 2019 neu beginnt. Dann könnte Erdoğan theoretisch bis 2029 im Amt bleiben. Oder er baut einen Nachfolger auf - in Ankara tippt man auf Energieminister Berat Albayrak, seinen Schwiegersohn.

Noch aber ist Erdoğan nicht am Ziel. Die MHP wackelt, in der Partei gibt es einen Bahçeli-kritischen Flügel, der gegen das Referendum stimmen könnte. Die andere große Unbekannte ist das Volk. Will es wirklich ein Präsidialsystem? Umfragen ergeben kein klares Stimmungsbild. Am Ende kommt es wohl darauf an, ob die Menschen Erdoğans Stabilitätsversprechen glauben.

Eine - aus europäischer Sicht - gute Nachricht gibt es: Über die Todesstrafe, von Erdoğan lange vollmundig in Aussicht gestellt, steht im Entwurf kein Wort.

© SZ vom 24.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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