Türkei:Vorläufig frei

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Die deutsche Journalistin Meşale Tolu wird aus der türkischen Untersuchungshaft entlassen. Doch Berlin reagiert zurückhaltend, denn das Verfahren läuft weiter. Im Falle eines Urteils drohen bis zu 20 Jahre Haft.

Von Luisa Seeling, München

Meşale Tolu - hier nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft - darf die Türlei jetzt verlassen. (Foto: Lefteris Pitarakis/dpa)

Es gab bereits Grund zur Hoffnung, als am Montag in Istanbul der zweite Prozesstag gegen Meşale Tolu begann. Ihr Mann, Suat Çorlu, war Ende November freigekommen. Beobachter werteten dies als Zeichen, dass auch die Journalistin auf eine Entlassung aus der Untersuchungshaft hoffen durfte. Ende Oktober war zudem der Deutsche Peter Steudtner aus türkischer Haft entlassen worden, ein weiteres Signal der Entspannung in den deutsch-türkischen Beziehungen.

Nun also auch Meşale Tolu: Schon am frühen Nachmittag trug die Staatsanwaltschaft ihre Forderung vor, die 33-Jährige und fünf weitere Angeklagte aus dem Gefängnis zu entlassen. Das Gericht folgte dem, verbunden allerdings mit Auflagen: Die gebürtige Ulmerin mit türkischen Wurzeln, die nur noch einen deutschen Pass besitzt, darf die Türkei vorerst nicht verlassen und muss sich jeden Montag bei den Behörden melden. Das Verfahren gegen sie und ihre 17 Mitangeklagten läuft weiter, im Falle eines Urteils drohen nach Angaben ihrer Verteidiger Haftstrafen bis zu 20 Jahren.

Der zweijährige Sohn sah damals zu, wie ein Spezialkommando seine Mutter abführte

Tolu hatte zuletzt als Journalistin und Übersetzerin für die linke Nachrichtenagentur Etha gearbeitet. Ende April wurde sie bei einer Razzia in ihrer Wohnung in Istanbul festgenommen. Ihr und ihren Mitangeklagten werden Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Verbreitung "terroristischer Propaganda" vorgeworfen. Gemeint ist die linksextreme MLKP, die in der Türkei verboten ist und in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Als Belege führt die Anklage an, dass Tolu an zwei Beerdigungen teilgenommen habe, der eines getöteten MLKP-Militanten und der eines Kämpfers der syrisch-kurdischen YPG-Miliz, die der türkischen Regierung als Ableger der PKK und somit als Terrororganisation gilt. Tolu sagte dazu, sie habe die Beisetzungen als Berichterstatterin besucht. Den Vorwurf, Mitglied der MLKP zu sein, wies sie zurück. "Ich wurde verhaftet, weil ich Journalistin bin und beabsichtigt wurde, Druck auf die Medien auszuüben", sagte sie nach Angaben von Beobachtern am Montag vor Gericht. Nach Ansicht ihrer Verteidiger ist die Anklage so dünn, dass Tolu gar nicht erst in U-Haft hätte genommen werden dürfen. Die Verhandlung wird nun im April fortgesetzt. Der Fall Tolu hatte auch wegen der Umstände ihrer Verhaftung hohe Wellen geschlagen: Ihr zweijähriger Sohn musste zusehen, wie ein Spezialeinsatzkommando seine Mutter abführte; er wurde zunächst bei Nachbarn abgegeben, später lebte er mehrere Monate mit Tolu im Gefängnis - eine Entscheidung der Familie, weil der Junge schwer traumatisiert gewesen sei und nicht verstanden habe, warum beide Eltern nicht mehr bei ihm sind. Nach dem Gerichtsurteil wurde Tolu in die Haftanstalt im Stadtteil Bakırköy gefahren. Dort werde sie ihre Sachen abholen und dann formal aus der Haft entlassen, hatten ihre Anwälte gesagt; am Abend wurde Tolu zunächst jedoch auf einer Polizeiwache weiter festgehalten. Ihren Anwälten zufolge gab es Verwirrung wegen widersprüchlicher Anweisungen: Während das Gericht eine Ausreise verbot, hätten Polizisten Tolus Abschiebung angeordnet. Am späteren Abend konnte sie jedoch die Polizeistation verlassen, zusammen mit Ehemann, Sohn und Vater. Kanzlerin Angela Merkel begrüßte die Anordnung des Gerichts zur Freilassung, sagte aber, dies sei "keine komplett gute Nachricht", weil Tolu das Land nicht verlassen dürfe und es keinen Freispruch gebe. Außenminister Sigmar Gabriel sprach von "immenser Erleichterung". Nach Angaben des Auswärtigen Amtes dürfen zurzeit 28 deutsche Staatsangehörige die Türkei wegen laufender Verfahren nicht verlassen. In vielen dieser Fälle geht es um politische Vorwürfe, die von deutscher Seite als unberechtigt eingestuft werden. Acht Deutsche sitzen aus politischen Gründen weiter in türkischer Haft; prominentester Häftling ist der Welt-Korrespondent Deniz Yücel, der seit mehr als 300 Tagen hinter Gittern sitzt, ohne dass eine formale Anklage vorliegt. Wer die anderen sieben Inhaftierten sind, ist nicht bekannt, ihre Familien wollen keine Öffentlichkeit.

Gabriel wertete die Entwicklung im Fall Tolu als "deutliches Signal der Entspannung" im deutsch-türkischen Verhältnis, betonte aber auch, dass noch lange nicht alle Probleme beseitigt seien. Für eine Neubewertung der Beziehungen, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert, sei es noch zu früh.

© SZ vom 19.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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