Türkei:"Die Stadt verändert sich"

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Istanbul gilt als Stadt des friedlichen Nebeneinanders: Partygänger, wie hier in Beşiktaş, hatten bislang genauso ihren Platz wie fromme Gläubige. (Foto: AFP)

Eine Frau wird in Istanbul zu Boden getreten, weil sie Shorts trägt. Der Täter sieht sich im Recht: Wer sich sexy kleidet, gehöre bestraft. Über eine Metropole im Wandel.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Ayşegül Terzi hat Feierabend. Es ist der erste Tag des muslimischen Opferfestes. Die 23-jährige Krankenschwester will nach Hause zu ihrer Familie. Sie steigt in Maslak, einem Stadtteil im Norden Istanbuls in den Bus. Einige Fahrgäste stehen, so voll ist es drinnen. Plötzlich beginnt ein Mann, sie zu beschimpfen. "Du bist der Teufel", habe er gesagt. Er mustert die Frau. Er verachtet sie, weil sie knappe Shorts trägt und das zu Bayram, den Festtagen. "Wer Shorts trägt, hat kein Recht zu leben." Dann verpasst er ihr einen Tritt gegen den Kopf. Die Frau geht bewusstlos zu Boden.

Als Ayşegül Terzi wieder zu sich kommt, ist ihr Vater an ihrer Seite. Sie ist im Krankenhaus. Passiert ist der Angriff vergangene Woche. Ein blauer Fleck am Kinn erinnert noch an den Tritt. Das ist die äußerliche Wunde. Und seelisch? "Mir geht es nicht gut", sagt die Frau. "Ich kann nicht schlafen. Ich mag nicht alleine aus dem Haus gehen." Sie bekam Nachrichten übers Internet: "Das geschieht dir recht!" In einer anderen stand: "Es wäre besser, wenn du auch noch vergewaltigt worden wärest." Ayşegül Terzi sagt: "Wir behaupten doch in einem freien Land zu leben."

Freies Land? Seit Tagen diskutieren Politiker, Medien, die Leute in den sozialen Netzwerken darüber, wie frei die Türkei tatsächlich ist. Kopftuch und Mini-Rock, bauchfrei oder vollverschleiert - bisher funktionierte zumindest das Nebeneinander. Man muss nur einmal am Sonntag durch die Cafés und Kneipenstraßen Karaköys schlendern, am Bosporus-Ufer. Ganz große Freiheit. Oder ist das nur noch eine Täuschung? Seitdem mit der AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan 2002 eine islamisch-konservative Kraft an der Macht ist, ist das Land erst konservativer und dann auch islamischer geworden.

Der Angreifer heißt Abdullah Ç., ist 35 Jahre alt und bei einem Sicherheitsdienst angestellt. Er wird in seiner Wohnung festgenommen. Nach dem Verhör darf er wieder gehen. Wegen einer Körperverletzung sahen die Behörden keinen Grund, ihn länger festzuhalten. Außerdem gab der Mann an, psychisch labil zu sein. Darüber hinaus ist Ç. aber der Meinung, er habe sogar das Recht, Frauen zu schlagen, wenn sie sich so sexy zum islamischen Opferfest kleideten. Sie würden Verbotenes tun. Sie gehörten bestraft.

Das Vorgehen der Justiz löst eine solche Welle der Empörung aus, dass die Richter wenig später zurückrudern und den Mann erneut festnehmen. Dieses Mal wegen des Tatvorwurfs, "Hass und Feindseligkeit" geschürt und die Meinungs- und Glaubensfreiheit angegriffen zu haben. Jetzt wird noch heftiger diskutiert - auch über die Launen der Justiz. Und ob Istanbul noch die Stadt ist, die sie einmal war.

Während des Fastenmonats Ramadan, der dieses Jahr in den Juni fiel, war in einem der Ausgehviertel ein Plattenladen überfallen worden. Der Besitzer und seine Gäste hatten sich das neue Musikalbum der Band Radiohead angehört und Alkohol getrunken, als eine Gruppe Islamisten vorbeikam und die Leute verprügelte. Staatspräsident Erdoğan verurteilte die Tat zwar, machte aber den Ladenbesitzer wegen seines Verhaltens mitverantwortlich.

Die AKP versprach den frommen Frauen Karriere trotz Kopftuch. Nun sollen sie zu Hause bleiben

Im August wurde Hande Kader, eine transsexuelle türkische Aktivistin ermordet. Ihr verstümmelter und verkohlter Körper deutet auf ein Hassverbrechen hin. Die alljährliche Parade der Lesben und Schwulen - früher noch von der AKP geduldet - endete 2015 mit Ausschreitungen. Trotz Verbots waren Homosexuelle auf die Straße gegangen. Es war Ramadan. Dieses Jahr trauten sie sich das nicht mehr.

Selina Doğan ist in Istanbul geboren. Das ist auch ihre Stadt. Die 39-Jährige ist Abgeordnete der säkularen Oppositionspartei CHP. Sie sagt: "Man kann es nicht leugnen: die Stadt verändert sich. Freiheit ist doch mehr als die Entscheidung Kopftuch oder Shorts. Das Land ist doch groß genug", sagt sie. Das habe sie jedenfalls immer gedacht. "Wir müssen uns fragen, wie wir künftig zusammenleben wollen."

Auch sie bekommt zu spüren, wie der AKP-Islamismus Mainstream zu werden beginnt. Und je stärker Erdoğan das Land mit seiner Politik polarisiert, desto radikaler beanspruchen auch die Religiösen den Raum für sich. "Die Leute fangen an, selbst das Gesetz in die Hand zu nehmen", sagt Selina Doğan. Das macht ihr Angst, wenn sie an den Fall der Krankenschwester denkt.

Auch die Istanbuler Frauenrechtlerin Ipek Bozkurt macht sich Sorgen. Wenn heute so etwas im Bus passiert, müsse danach die Frau fürchten, auf der Straße zu stehen. Und andere Frauen würden dann sagen: Sie sollte es besser wissen. Bozkurt erinnert daran, dass es in den Anfangsjahren der AKP vor allem auch die frommen Frauen waren, die Erdoğan mächtig gemacht haben. Er hatte ihnen versprochen, sie dürften auch bald mit Kopftuch Karriere machen. Er öffnete die Unis für sie, ließ sie Doktoren werden und Anwältinnen. Und heute, bald 15 Jahre später, erkläre der selbe Mann, Kinderkriegen sei schon Karriere genug und dem Mann zu dienen, die Erfüllung. "Wir waren als Frauenbewegung schon so weit. Und nun fangen wir wieder an zu diskutieren, was wir anziehen, wenn wir in den Bus steigen."

Zurück in die Vergangenheit? Nicht ganz. Ayşegül Terzi bekam einen Anruf von Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya. Sie erklärte später in der Presse, wegen der Wahl ihrer Kleidung angegriffen zu werden, mache sie "doppelt" traurig. Die Ministerin trägt Kopftuch. Sie wisse, was es bedeutet, angefeindet zu werden. Sie sei "als Mensch, als Frau und als Ministerin" betroffen, sagte die Politikerin. Kein Aber.

© SZ vom 22.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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