Türkei:Der Stoff des Anstoßes

Lesezeit: 5 min

Der Einzug Abdullah Güls in den Präsidentenpalast von Cankaya markiert eine Zeitenwende. Nicht bloß eine neue Person besetzt nun den Palast, sondern eine neue Klasse: die aufstrebende anatolische Bourgeoisie.

Kai Strittmatter, Istanbul

Man nehme eine türkische Landkarte, ziehe eine horizontale Linie von der Ägäisküste im Westen bis zur iranischen Grenze im Osten und dann eine vertikale vom Schwarzen Meer im Norden zum Mittelmeer im Süden. Haargenau am Schnittpunkt der beiden Linien liegt die Stadt Kayseri. Die Mitte der Türkei. Die Heimatstadt von Abdullah Gül und seiner Frau.

Abdullah Gül: Sein Einzug in den Präsidentenpalast von Cankaya markiert eine Zeitenwende. (Foto: Foto: Reuters)

Nachdem Gül am Dienstagabend seinen Amtseid gesprochen hatte, fanden die größten Feiern der Türkei nicht in Ankara statt, sondern in Kayseri. Abdullah Gül, ein Bürger von Kayseri, ist der elfte Präsident der türkischen Republik. Anatolien ist angekommen.

Um Gül zu verstehen, um seine Partei zu verstehen, die AKP von Ministerpräsident Tayyip Erdogan, die nun mit größerer Machtfülle denn je die Türkei regieren darf, ist Kayseri kein schlechter Ausgangsort. Ein besonderer Menschenschlag lebt dort. Fromm, stockkonservativ - und dabei so fleißig und geschäftstüchtig, dass ihm die Forscher von der "European Stability Initiative" ESI das Etikett "Islamische Calvinisten" verpassten.

Die Symbiose von gottgefälligem Malochen und Beten um Profit kam ihnen sehr protestantisch vor. "Wirtschaftlicher Erfolg und soziale Entwicklung haben ein Milieu geschaffen", heißt es in der ESI-Studie über die Wirtschaftswunderkinder von Zentralanatolien, "in dem Islam und Moderne gütlich nebeneinander bestehen." Abdullah Gül jedenfalls fand die Analyse so treffend, dass er prompt erklärte, er sei ein islamischer Calvinist.

Schlicht "konservativ"

Auch deshalb haben sie so gegen ihn gewettert, die selbsterklärten Verteidiger der Republik: Weil Gül keiner von ihnen ist. Sein Einzug in den Präsidentenpalast von Cankaya markiert eine Zeitenwende. Nicht bloß eine neue Person besetzt nun den Palast, sondern eine neue Klasse: die aufstrebende anatolische Bourgeoisie. Und deshalb hatte der Streit der letzten Monate auch immer etwas von Klassenkampf: Auf der einen Seite viel alter republikanischer Adel, so blasiert, blutleer und verbraucht; auf der anderen Seite Neureiche und Neuankömmlinge, hungrig, getrieben, den Zeitgeist auf ihrer Seite witternd, bodenständig und doch oft auf ihre Art arrogant.

Erdogan ist so einer, dem der Hochmut auch mal durchgeht. Gül nicht. Bei den Türken ist der volksnahe Gül auch deshalb so beliebt, weil der heute 56-Jährige stets zurückhaltend und höflich auftritt, ein Eindruck, den seine leise Stimme noch verstärkt. Die Familienlegende erzählt vom Onkel, der den jungen Abdullah als Limonadenverkäufer gefeuert habe, weil der es nicht fertigbrachte, laut genug zu rufen: "Soooda! Eiskalt!" So durfte er aufs Gymnasium.

Er studierte Wirtschaft in Istanbul und London und arbeitete bis 1991 bei der Islamischen Entwicklungsbank in Saudiarabien, bevor er in die Türkei zurückkehrte und dort in die Politik fand. Es sind diese Jahre, die seine Gegner ihm heute noch vorwerfen: Wie Gül bei Necmettin Erbakan unterschlüpfte, dem Vater des türkischen Islamismus, und wie der ihn zu seinem Vorzeige-Gefolgsmann aufbaute.

Es waren jedoch Gül und Erdogan, die dann Erbakans Partei auf einen pragmatischen Weg zwingen wollten. Als dies misslang, gründeten sie 2001 die AKP, eine Partei, die sich bewusst nicht mehr "islamisch" nennt, sondern schlicht "konservativ". Schon 2002 errang die frisch gegründete Partei die absolute Mehrheit im Parlament - und überraschte viele mit einer proeuropäischen Reformpolitik, der ein kleines Wirtschaftswunder folgte.

Als Außenminister führte Gül die Türkei an die EU heran. Ein Mann aber, den heute die ehemaligen Kollegen von Helsinki bis Lissabon für seine liberale, umsichtige und kompromissbereite Politik preisen, bietet seinen Gegnern nicht mehr allzu viel Angriffsfläche.

Ein Bestseller versuchte kurz vor den Wahlen, noch zu beweisen, dass die Familien Gül und Erdogan insgeheim Juden seien, aber die Argumentation, derzufolge nun heimliche Juden versuchten, in der Türkei die Scharia einzuführen, schien selbst hartgesottensten Kemalisten zu anstrengend. So suchten sie sich ein anderes Ziel: Abdullah Güls Ehefrau.

Gesinnung auf der Haut

Seit Monaten ist die eher scheue Hayrünnisa Gül nicht nur ihr Argument Nummer eins gegen Gül, sondern längst das einzige überhaupt. Manche rümpfen über den Altersunterschied die Nase. Es war eine von den Eltern arrangierte Ehe.

Als die beiden heirateten, war er 30 und sie erst 15. Der Vater nahm das Mädchen für die Hochzeit von der Schule. Weil die Ehe aber offenbar glücklich ist, und Hayrünnisa Gül selbst dem Massenblatt Hürriyet glaubhaft versicherte, wie sehr sie noch immer in ihren "schönen Mann" verliebt sei (die Türken vergleichen ihn gern mit George Clooney), blieb nur ein Thema: das Kopftuch von Frau Gül.

Dass man in der Türkei die Gesinnung auf der Haut trägt, ist nicht neu. Mustafa Kemal Atatürk persönlich lehrte seine Untertanen nicht nur Walzer tanzen und lateinisch schreiben, er schneiderte ihnen die Moderne auf den Leib. Die Moderne, das war natürlich der Westen. Also verbot Atatürk die alten Stiefel und machte europäische Lederschuhe zur Pflicht. Die Pluderhosen mussten dem Anzug weichen, Fes und Turban dem breitkrempigen Hut, der die Gebetsbeuge gen Mekka fast unmöglich macht.

Der größte anzunehmende Unfall

Gegner der Hutgesetzes wurden gehenkt. Die Hutrevolution fand ihren Niederschlag im Hutgesetz vom 25. November 1925, das heute, 80 Jahre später, noch immer gilt. So wie die Mentalität dahinter noch immer durchs Land weht. Die Armee verbietet das Betreten von Militärgeländen jeder Frau mit Kopftuch und jedem Mann mit Bart. Weil fromme Muslime Bärte tragen. Auf den Einladungskarten für die Empfänge des scheidenden Präsidenten Ahmet Necdet Sezer fanden die Minister der AKP zwar stets ihre eigenen Namen, aber nie die ihrer kopftuchtragenden Frauen.

Abdullah Gül ist nun offiziell der Oberbefehlshaber der türkischen Streitkräfte. Ein bärtiger Mann mit einer kopftuchtragenden Frau. Einer Frau, die ihr Kopftuch zudem nicht locker nach alter türkischer Tradition knüpft, sondern fest unterm Kinn, sodass kein Ansatz von Haar und Hals zu sehen ist. Die Armee hat keine Gelegenheit ausgelassen zu erklären, dass das für sie der größte anzunehmende Unfall ist.

Und für das Land? Ist es ein weiterer Schritt in die Normalität. 70 Prozent haben bei einer Umfrage der liberalen Zeitung Milliyet gesagt, es sei egal, ob die Präsidentengattin Kopftuch trage. Fast ebenso viele finden nichts dabei, wenn der Präsident religiös ist. Sie trauen Gül trotzdem zu, die säkulare Verfassung der Türkei zu schützen. Die Gül-Gegner werden jeden Schritt des Ehepaars beobachten, auf den kleinsten Fehltritt lauern. Wie oberflächlich aber ihre alte Kleiderordnung ist, zeigte sich in den letzten Jahren unter der AKP-Regierung:

"Dann möchte ich endlich studieren"

Mit einem Male waren die schnauzbärtigen Religiösen die Weltoffenen geworden und die vermeintlich Säkularen in ihren feinen Anzügen die Ewiggestrigen. "Die Reaktionären sind nun die Progressiven", meint der linke Liedermacher Zülfü Livaneli, "und die einst Progressiven sind heute die Reaktionären." Und das Kopftuch? "Es bedeckt meinen Kopf und nicht mein Gehirn", sagt Hayrünnisa Gül.

Die bisherigen Machthaber haben kopftuchtragenden Frauen nicht nur den Zugang zum Präsidentenpalast verwehrt, sondern auch den zur Universität. Dabei tragen es zwei Drittel aller Türkinnen. Hayrünnisa Gül hat mithilfe ihres Mannes ihr Abitur nachgeholt. 1998 dann zog sie vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, um ihre Zulassung zum Arabischstudium an der Universität von Ankara zu erstreiten.

Als ihr Mann Außenminister wurde, zog sie die Klage zurück. Jetzt, da Abdullah Gül Präsident ist, ist der Tag wohl nicht mehr fern, da man auch türkische Universitäten mit Kopftuch betreten darf. Hayrünnisa Gül hat schon angekündigt, was sie dann tun wird: "Dann möchte ich endlich studieren."

© SZ vom 29.08.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: