Türkei-Beitritt:Der fremde Freund

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Der Bericht der EU-Kommission, der an diesem Mittwoch in Brüssel veröffentlicht wird, stellt Ankaras Reformpolitik ein schlechtes Zeugnis aus. In der Türkei will nur noch jeder Dritte den Beitritt, viele fühlen sich von der EU schlecht behandelt.

Kai Strittmatter

Vor einer Woche hat die Republik einmal wieder Geburtstag gefeiert, ihren 83.. ,,Und auch nach 83 Jahren Existenz ist sie ihrer selbst und ihrer Zukunft unsicher'', schrieb der bekannte Kolumnist Cengiz Candar in einem Geburtstagsgruß an ,,unsere bedrückte, melancholische Republik''.

Völker, die nicht so recht wissen, wo sie stehen und wohin sie sollen, waren schon immer besonders sensibel für das, was die anderen über sie denken. Auch deshalb ist die Zahl der Türken, die einen EU-Beitritt ihres Landes wollen, auf ein Rekordtief gefallen.

Einer Umfrage vom Oktober zufolge möchte das nur noch jeder Dritte. Noch vor einem Jahr waren es doppelt so viele. Dazwischen liegen zwölf Monate beidseitiger Enttäuschung, des Frustes und der Entfremdung.

Gut möglich, dass an diesem Mittwoch, wenn die EU ihren kritischen Fortschrittsbericht veröffentlicht, die Zahl der türkischen EU-Freunde weiter sinkt. ,,Die Mentalität hier ist ganz einfach'', erklärt Beril Dedeoglu, Professorin für Internationale Beziehungen an der Galatasaray-Universität in Istanbul: ,,Wenn ihr uns nicht haben wollt, dann wollen wir euch erst recht nicht.''

Nationalismus kehrt zurück

Nationalismus hat wieder Konjunktur, dazu der alte Spruch, wonach der Türke keinen Freund hat außer dem Türken. ,,Die Unterstützung der armenischen Diaspora, die Reden von Angela Merkel, die antiislamische Grundhaltung in Europa, all dies wird vom Volk als Paket registriert und sehr persönlich genommen'', sagt Dedeoglu. ,,Das Problem ist: Man entfernt sich von Europa, ohne sich selbst zu hinterfragen.''

Die Opposition im Parlament ist da ein gutes Beispiel. Dem Vorhaben der Regierung, ein neues Stiftungsgesetz zu verabschieden, das religiösen Minderheiten das Leben erleichtern soll, begegnete die oppositionelle CHP allen Ernstes mit dem Geheul, das bringe das Land zurück zum Schandvertrag von Sèvres, der 1920 die Aufteilung der Türkei vorsah.

Die CHP - die sich ,,sozialdemokratisch'' nennt - ist die stärkste Gegnerin einer Abschaffung des berüchtigten Paragraphen 301, der die ,,Herabsetzung des Türkentums'' unter Strafe stellt. Jedes Mal wenn Premier Tayyip Erdogan - wie am Sonntag - vorsichtig eine Änderung des 301 in Aussicht stellt, schallt ihm der Vorwurf des Landesverrats entgegen.

Tatsächlich ist oft von ,,Opfern'' die Rede, wenn die Sprache auf Reformen kommt, die das Land in den vergangenen Jahren ein wenig EU-kompatibler gemacht haben. Als ob mehr Demokratie und weniger Willkür nicht im ureigensten Interesse der Türken selbst wären.

Der anschwellende Nationalismus und das bevorstehende Wahljahr 2007 sind wohl schuld daran, dass die Regierung Erdogan ihren Reformschwung so völlig verloren hat. Das meint übrigens nicht nur die EU: Auch für die türkische Menschenrechtsorganisation IHD war 2006 ein verlorenes Jahr: Die Lage habe sich ,,zum Schlechten verändert'', erklärte die Organisation diese Woche.

Für Ankara in die Bresche warf sich dagegen Kemal Dervis, der angesehene Chef des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, UNDP. Dervis - selbst Türke - warnte die Europäer, sie sollten gegenüber der Türkei einen anderen Ton anschlagen. Er verwies auf den ,,tiefgreifenden Wandel der türkischen öffentlichen Meinung'': Es zahle sich für einen Politiker nicht mehr aus, pro-EU zu sein.

Einer, der noch enthusiastisch für den Beitritt wirbt, ist der Vorsitzende des Kammer- und Börsenvereins, Rifat Hisarciklioglu. Er hat seine Regierung mehrfach zur Änderung des Paragraphen 301 aufgefordert, gibt aber beiden Seiten die Schuld an der Abkühlung: Ankara habe das Thema Europa einfach der Bürokratie überlassen, statt die Zivilgesellschaft einzubinden.

Und die EU habe ,,alle ihre Zypern-Versprechen gebrochen'' und stehe in den Augen vieler Türken nun für ,,Heuchelei und Doppelmoral''. Die EU solle sich ,,schämen für Zypern'', findet auch der europafreundliche Kommentator Mehmet Ali Birand: Ankara könne unmöglich See- und Flughäfen für die griechischen Zyprer öffnen, bevor nicht die EU - wie einst versprochen - die Isolierung des türkisch-zyprischen Nordens aufhebe.

Beril Dedeoglu bleibt dennoch optimistisch: ,,Die Skepsis der Türken ist nicht von Dauer. Jedem ist bewusst, dass das EU-Projekt eine Fortsetzung der Verwestlichung unseres Landes ist. Das behält Anziehungskraft.'' Andere sehen die Sache ohnehin gelassen.

,,Für mich und viele andere ist es mittlerweile unwichtig, ob die Türkei EU-Mitglied wird oder nicht'', sagt der Istanbuler Versicherungskaufmann Ergun Taner. ,,Hauptsache wir leben eines Tages so frei und wohlhabend wie die Menschen in der Union. Ich will Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wie in Europa. Das genügt.''

© SZ vom 8.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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