Türkei:450 Kilometer für die Gerechtigkeit

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Noch gut 100 Kilometer bis Istanbul: Teilnehmer des Gerechtigkeitsmarsches am Montag nahe Izmit. (Foto: Umit Bektas/Reuters)

Ein Protestmarsch von Ankara nach Istanbul könnte die zerstrittene Opposition einen.

Von Mike Szymanski, Izmit

Die Türkeifahne hängt durch, sie berührt gleich den Boden. Nach 19 Tagen Fußmarsch und mehr als 300 zurückgelegten Kilometern lässt die Kraft nach. Und es ist ja auch nicht irgendeine Fahne, die die Marschierer zwischen sich aufgespannt haben. Es ist ein Stoffband, so lang, dass man das Ende gar nicht erkennen kann. Erkut Akkoy, durchgeschwitztes weißes T-Shirt, sagt, er muss noch ein bisschen durchhalten. Ein paar Kilometer noch. Für heute.

Auf der Landstraße zwischen Ankara und Istanbul spielt sich Bemerkenswertes ab. Leute marschieren. Die Sonne hat den Asphalt so aufgeheizt, dass die Luft darüber flimmert. "Die Hitze macht einen fertig", sagen die Schweißnassen. Aber es kommen von Tag zu Tag mehr zum Marsch für Gerechtigkeit. Es sind Tausende, die Presse schätzt um die 20 000. Angeführt wird der Protestzug, der sich am 15. Juni in Ankara in Bewegung gesetzt hat, von Kemal Kılıçdaroğlu, dem Chef der größten Oppositionspartei, der CHP. Sein Ziel heißt Istanbul. 450 Kilometer quer durchs Land.

Kılıçdaroğlu, 68, galt immer als zu friedliebend, zu zurückhaltend für die raue türkische Politik. Noch vor dem Marsch hatten sie ihn "Gandi Kemal" genannt, eine Anspielung auf Mahatma Gandhi. Dessen berühmter Protestmarsch war 388 Kilometer lang. Die Leute, die mit Kılıçdaroğlu laufen, sagen nun, dies sei vielleicht sein bester Einfall überhaupt.

In der türkischen Politik dominiert Recep Tayyip Erdoğan einfach alles. Bei Wahlen hat die Opposition dem mächtigen Staatspräsidenten nicht mehr viel entgegenzusetzen. Mit dem Übergang zur Präsidialverfassung, die Erdoğan seit April noch mehr Macht verleiht, verliert die Opposition auch im Parlament an Einfluss. Sehr zum Ärger von Erkut Akkoy. "Erdoğan hat die Türkei in einen Parteistaat verwandelt." Aber dann kam der 15. Juni. Kılıçdaroğlu kündigte an, jetzt für die Gerechtigkeit marschieren zu wollen. "Ich war glücklich", sagt Akkoy. Er holte seine dunkelblauen Turnschuhe raus.

Die Regierung weiß nicht, wie sie mit dem Protest umgehen soll. Für ein Verbot fehlt das Vergehen

In den Nachrichten ist der Marsch nun ständig Thema - mal größer, mal kleiner. Alle reden drüber. Manchmal nur deshalb, weil Erdoğan sich aufregt. Einmal ließ er die Marschierer gönnerhaft wissen, sie dürften nur deshalb laufen, weil er es ihnen zubillige. An anderen Tagen zieht er den Vergleich zu den Putschisten, die im Sommer 2016 versuchten, ihn zu stürzen. Erdoğan hatte Kılıçdaroğlu auch schon gedroht, er möge sich nicht wundern, wenn sich bald die Justiz bei ihm melden würde.

Noch drei Kilometer, bis das Tagesziel erreicht ist. Izmit, eine Stadt gut 100 Kilometer vor Istanbul. Ein weißer BMW überholt die Marschierer. Drei Frauen mit Kopftuch stecken ihre Köpfe raus und recken die Daumen nach oben. Laster hupen, Familien winken. Gerechtigkeit geht alle an, glaubt Kılıçdaroğlu. Deshalb will er nicht, dass Parteifahnen herausgeholt werden. Deshalb tut sich die Regierung auch so schwer, mit dem Marsch umzugehen. Ihn stoppen? Kılıçdaroğlu fragt: Was sollte das Verbrechen sein? Marschieren? Für Gerechtigkeit sein?

Der CHP-Chef hat lange gebraucht, um sich zu diesem Marsch durchzuringen. Erst als ein Gericht seinen Parteifreund Enis Berberoğlu für 25 Jahre ins Gefängnis schicken will, weil er geheimes Material über Waffenlieferungen der Regierung an Extremisten in Syrien einer Zeitung zugespielt haben soll, reichte es Kılıçdaroğlu. "Genug ist genug", sagte er zum Auftakt des Marsches. Fast jeder hier hat seinen persönlichen Genug-ist-genug-Moment. Seit dem Putschversuch im Sommer 2016 hat die Regierung etwa 150 000 Angestellte aus dem öffentlichen Dienst entfernt und 50 000 Menschen verhaftet. In Erkut Akkoys Nachbarschaft seien fünf, sechs Leute festgenommen worden. Akademiker wie Politikwissenschaftlerin Simten Coşar laufen mit, weil sie das Klima der Angst, das längst auch in den Hochschulen eingezogen ist, nicht mehr erträgt. "Ich weiß nicht, was mit mir passieren wird", sagt die 49-Jährige, die sich ein Handtuch in den Nacken gelegt hat. Nicht immer schlägt den Marschierern Sympathie entgegen. Eines Morgens hätte jemand Mist auf die Straße gekippt, dort, wo sie lang mussten.

Kılıçdaroğlu hatte Distanz zur pro-kurdischen HDP gehalten. Jetzt läuft die Partei mit

Kılıçdaroğlu hat sein Tagesziel erreicht. Es ist Abend geworden. Er sitzt in einem zum Quartier umgebauten Reisebus. Seine Füße stecken in Badelatschen, sie haben die 300 Kilometer bis hierher ohne erkennbare Schäden weggesteckt. Die Strapazen des Marsches sind ihm nicht anzusehen. Vielleicht hat der Masseur, der vorhin bei ihm war, sie einfach weggeknetet.

Mit den Problemen des Landes wird das nicht so einfach sein. Ein Marsch allein werde das Land nicht verändern, sagt er. "Es muss mehr passieren. Es wird weitere Formen des Protests geben, des zivilen Ungehorsams", sagt er. Seine Partei müsse ihre Arbeit stärker auf die Straße verlegen, und sich selbst zurücknehmen. "Außer der CHP gibt es kaum mehr eine Partei, die aktiv Oppositionsarbeit machen kann", sagt er. Kılıçdaroğlu will die zersplitterte Opposition zusammenführen. "Wer die Demokratie verteidigt und die Gerechtigkeit, mit denen werden wir zusammenstehen." Bislang hat er Distanz zur pro-kurdischen Partei HDP gehalten, deren Funktionäre wegen angeblicher Unterstützung der PKK im Gefängnis sitzen. Am Dienstag hat sich die HDP dem Marsch angeschlossen. Wenn sie sich klar vom PKK-Terror distanziere, sagt Kılıçdaroğlu, könne er sich eine Zusammenarbeit vorstellen. Ginge es nach ihm, würde er einen großen Block gegen Erdoğan formen, auch mit islamischen und ultranationalistischen Kräften. Es gehe darum, einen gemeinsamen Nenner zu finden. "Das ist der einzige Weg." Er hat schon die Wahlen 2019 im Blick. Aber erst einmal muss er in Istanbul angekommen.

Auch Erkut Akkoy macht sich seine Gedanken. "In einem demokratischen Land würde sich längst etwas ändern", glaubt er. "Aber hier? Das ist kein demokratisches Land mehr." Der Gedanke sei kaum zu ertragen, findet er. Deshalb daheim bleiben? Konnte er nicht.

© SZ vom 05.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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