Es gibt Momente, da wird Claude Thomas von einem Sog erfasst und in die Vergangenheit gerissen. Ohne Vorwarnung, ganz plötzlich. Im Supermarkt etwa: Ein Griff ins Regal - und er wittert Gefahr: Die Dose dort ist womöglich gar keine Dose, sondern eine Sprengfalle. Eine Wolke am Himmel, der Knall einer Autotür, und alles ist wieder da. Nachts im Halbschlaf, wenn es still ist, kann er den Krieg riechen. Er riecht nach Blut. Dann weiß er einen Augenblick lang nicht, ob er träumt oder ob er wieder in Vietnam ist: Crew-Chief Claude Thomas aus Pennsylvania, 116. Assault Helicopter Company.
Sie haben den Hubschrauber geparkt, die Wachen schlafen, als in der Nacht der Vietcong die Stellung überrennt. Chaos bricht aus, ein Irrsinn aus Angst und Gewalt. Im Dunkeln kann Claude nicht erkennen, wen er umbringt; Freund und Feind sind im Nahkampf kaum mehr zu unterscheiden. Als das Töten endet, bleiben die Schreie der Verwundeten und Sterbenden. Von 135 US-Soldaten blieben nur 15 oder 20 unversehrt. Alle anderen sind tot oder verletzt.
Den Krieg gegen sich selbst beenden
Claude, 18 Jahre alt, fasst einen Entschluss: Er wird fortan niemandem mehr vertrauen, denn die Gefahr lauert überall. Er wird ein guter Soldat. Bloß schlafen kann er nicht mehr. Mit seinem Maschinengewehr vom Typ M60, Kaliber 7,62 Millimeter, erschießt er vom Hubschrauber aus viele Menschen. Er fühlt nichts dabei. Es ist wie im Traum.
An die Gesichter der Toten erinnert er sich 40 Jahre danach noch, jeden Tag. Claude Thomas heißt jetzt Claude Anshin Thomas. Anshin bedeutet Friedensherz; es ist sein buddhistischer Name. Am 6. August 1995, genau 50 Jahre nach dem Abwurf der ersten Atombombe über Hiroschima, hat er sich zum Zen-Mönch der japanischen Soto-Tradition weihen lassen. Er sagt, der einzige Krieg, den er beenden könne, sei der Krieg gegen sich selbst. Er sagt, seine Geschichte sei die Geschichte aller Soldaten. Die Geschichte der Sieger und Verlierer des Zweiten Weltkriegs, der amerikanischen Irak-Veteranen. Es ist auch die Geschichte der deutschen Heimkehrer aus Afghanistan.
Etwa 62.000 Soldaten der Bundeswehr waren in den vergangenen drei Jahren im Ausland eingesetzt, in Bosnien, im Kosovo und in Afghanistan. Die Öffentlichkeit gewöhnte sich daran, dass Soldaten bei Anschlägen verletzt oder getötet werden. Doch erst ein Fernsehdrama der ARD über einen jungen Afghanistan-Heimkehrer öffnete den Deutschen die Augen für ein vergessenes Phänomen.
Die Angst macht keinen Unterschied zwischen Täter und Opfer
Mit der Zahl der immer gefährlicheren Auslandseinsätze wächst hier wieder eine gesellschaftliche Gruppe heran, die fast verschwunden war: die Kriegsveteranen. Im Gegensatz zum US-Soldaten Claude Thomas haben die meisten von ihnen im Einsatz keinen einzigen Schuss abgegeben, geschweige denn einen Menschen getötet. Aber sie lebten über Monate hinweg in Angst vor Anschlägen, sie haben Tote und Verwundete gesehen, Hunger und Armut erlebt, wie es sich die Deutschen zu Hause längst nicht mehr vorstellen können.
Für viele von ihnen hört der Krieg nicht auf: 245 Mal diagnostizierten die Psychologen der Bundeswehr im vergangenen Jahr bei Soldaten eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). 245 Fälle - das mag auf den ersten Blick verschwindend gering erscheinen im Vergleich zu den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals gab es die Diagnose zwar noch nicht, dafür war aber eine ganze Generation traumatisiert.
Die zerstörerische Kraft der Angst macht keinen Unterschied zwischen Tätern und Opfern. Sie kann jeden zerbrechen. Bei Gewittern zuckten Väter und Großväter zusammen; der Donner klang für sie wie ein Luftabwehrgeschütz. In Aufzügen erkannten sie Bunker oder Unterstände, und somit tödliche Fallen. Ein Spaziergang über den Stadtplatz kam für sie einem Himmelfahrtskommando gleich - in jedem Fenster ringsum konnte ein Scharfschütze lauern.
Auf der zweiten Seite erinnert ein Psychologe an das Lebensgefühl der Nachkriegszeit - und erklärt, warum Soldaten nicht zurück in den Frieden finden.