Tourismus:Kaufrausch am Fuße der Jungfrau

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Interlakens Einzelhandel hat sich voll auf Besucher aus Asien eingestellt – und ist von ihnen abhängig. (Foto: Pius Koller/imago)

Die Schweizer Stadt Interlaken lebt von chinesischen Touristen, die bald ausbleiben werden. Doch vorläufig bringt die Corona-Krise den örtlichen Geschäftsleuten ungeahnten Profit.

Von Peter Burkhardt, Interlaken

Mit einer Tasche voller Schutzmasken verlassen Elsa Cai und Edmund He, ein junges Paar aus Shanghai, die "Grosse Apotheke Dr. G. Bichsel" an der Bahnhofstrasse in Interlaken. "Die bringen wir unseren Angehörigen mit, wenn wir nach Hause reisen", sagt Cai. "In Shanghai sind alle Masken ausverkauft."

Wann und wie das Paar nach seiner zweiwöchigen Rundreise durch die Schweiz wieder nach China kommt, ist ungewiss. Am Mittwoch strich die Swiss alle Flüge nach Peking und Shanghai bis 9. Februar. Genau an diesem Tag wären Elsa Cai und Edmund He an Bord gewesen. Jetzt wollen sie versuchen, bei der russischen Aeroflot Plätze zu buchen.

Für Christine Peter, die Geschäftsleiterin der Apotheke Bichsel, bedeutet die Angst vor dem Coronavirus das große Geschäft. "Seit Mitte letzter Woche haben wir 18 000 Masken verkauft", sagt sie. Vor dem Eingang macht sie Werbung für "Hand sanitizer", in der Mitte des Ladens hat sie eine kleine Spezialauslage mit Schutzmasken und Desinfektionsmitteln aufgebaut.

In der benachbarten Bahnhof-Apotheke hat Betriebsleiterin Michaela Martinelli seit letzter Woche mehrere Zehntausend Masken verkauft. Größtenteils greifen asiatische Touristen zu, vereinzelt auch westliche Reisende und einheimisches Verkaufspersonal. Eine chinesische Touristin kauft zwanzig Schachteln zu je fünfzig Stück. Tausend Masken für ihre Lieben zu Hause. Desinfektionsmittel sind ausverkauft, außer die Literflaschen.

Nirgends in der Schweiz dürfte die Dichte an Mundschutz-Trägern so hoch sein wie in Interlaken

Der Kaufrausch könnte bald vorbei sein. Vergangene Woche haben Chinas Behörden für Gruppenreisen ins Ausland einen sofortigen Buchungsstopp angeordnet. Für die nächsten Wochen und Monate rechnet Schweiz Tourismus darum mit einem Rückgang der chinesischen Gäste um dreißig bis fünfzig Prozent. "Im schlimmsten Fall fehlen im Februar 50 000 Hotellogiernächte, die einem touristischen Umsatz von geschätzten 19 Millionen Franken entsprechen würden", sagt Schweiz-Tourismus-Chef Martin Nydegger.

Das könnte sogar noch optimistisch sein, falls nach Swiss, Lufthansa und British Airways weitere Airlines ihre Flüge nach China streichen. "Wir können nicht voraussehen, wie sich die Situation weiter entwickeln wird", räumt Nydegger ein. "Vor allem hängt es davon ab, ob die aktuellen Einschränkungen über die Nebensaison hinaus andauern werden."

Interlaken wird besonders leiden, wenn die Chinesen ausbleiben. Sie sind in dem Ort, in dem im vergangenen Jahr 1,1 Millionen Touristen übernachteten, die wichtigste ausländische Gästegruppe. Und die mit Abstand spendabelste.

Im Uhrenladen "Watches of Switzerland" fürchtet Ya Li Bracher Wang, eine aus China stammende Verkäuferin, um ihre Stelle. "Ab nächster Woche kommen sicher keine Gruppenreisenden mehr", sagt sie. Wie ihre sechs chinesischen Arbeitskollegen trägt Bracher Wang eine Maske. Nicht, weil sie um ihre Gesundheit fürchtet, wie sie beteuert, sondern aus Respekt. "Die Kunden erwarten das. Ich will ihnen ein Gefühl der Sicherheit geben." Angst hat Bracher Wang vor allem um ihre Angehörigen in China. Sie hat ihnen ein Paket mit Schweizer Vitaminpräparaten geschickt.

Ya Li Bracher Wang hat von Reisegruppen aus China gehört, die nicht mehr in die Läden und Restaurants gehen aus Furcht, dort nicht willkommen zu sein, aber auch aus Angst, sich mit dem Virus anzustecken. Wohl deshalb sitzen im China-Restaurant Lian an der Centralstrasse, das nebst Reis- und Nudelgerichten auch Schutzmasken feilbietet, selbst zur Mittagessenszeit fast keine Gäste. Am Höheweg, vor dem "Last Sexshop before the Jungfrau", sagt ein chinesischer Reiseleiter: "Die Schweizer sind freundlich zu uns, wir spüren keinen Rassismus. Aber man merkt, dass sie ein bisschen Angst vor uns haben." Dagegen beklagen sich Ivy Ng und Michael Tuen, ein junges Paar aus Hongkong, über die vielen Touristen aus Festlandchina: "Die sollten zu Hause bleiben und nicht ihr Virus hierher tragen."

Nirgends in der Schweiz dürfte die Dichte an Mundschutz-Trägern so hoch sein wie auf dem Höheweg, der Einkaufsmeile zwischen den Bahnhöfen Interlaken-West und Interlaken-Ost. Dreitausend Meter höher, auf dem Jungfraujoch, zeigt sich, wie irrational sich Menschen angesichts der Coronavirus-Epidemie verhalten. Als ob die Höhenluft das Virus vertreiben würde, tragen hier deutlich weniger asiatische Touristen eine Maske als unten im Ort.

Pro Jahr fahren gut eine Million Passagiere mit der Bahn auf das Jungfraujoch. Ein Fünftel kommt aus China, davon sind 60 Prozent Gruppenreisende. Sie dürften in den nächsten Wochen fehlen. Trotzdem gibt sich das Unternehmen optimistisch. "Wir hoffen, dass vermehrt Gäste aus anderen asiatischen Ländern zu uns kommen, die nun China meiden dürften", sagt Sprecherin Kathrin Naegeli. Diese Hoffnung teilt Tourismus-Chef Nydegger nicht: "Die Schweiz und China sind keine vergleichbaren Reiseziele."

© SZ vom 03.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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