Terroranschläge:Stärker als alle Heimsuchung

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Die Geschichte der Opfer kann helfen, die Lügen der Täter zu entlarven. Ein Blick auf das Leben von acht Menschen, die in Paris ermordet wurden.

Von Matthias Drobinski

Im Musikklub Bataclan dachten sie, die Schüsse seien Teil der Show. Vor den Cafés an diesem Frühlingsabend im November glaubten die Leute, Knallfrösche zu hören. Und als ein Schlag das Stade de France erschütterte, war der Reflex der Fans: Jetzt übertreibt es aber einer mit den Böllern. Das Furchtbare war unfassbar für die Menschen, die da auf einmal Mördern gegenüberstanden, an einem schönen Abend in einer lebensfrohen Stadt. 132 Menschen standen nicht irgendwelchen Mördern gegenüber, sondern ihren Mördern. Sie wollten nicht Helden sein oder Märtyrer. Sie wollten leben, ihr Leben mit all seinen Macken und Schönheiten. Sonst nichts.

Für das, was an diesem Abend geschah, gibt es ein altes deutsches Wort: Heimsuchung. Dort, wo man sich sicher und zu Hause fühlt, dringt etwas ein und zerstört das Sichere; der Eindringling macht die Heimat unheimlich. Das ist das Grundmotiv des Terrors: Das sicher Geglaubte soll zerbrechen. Kein Ort soll mehr Heimat und Ort der Geborgenheit sein. Im Januar galt diese Heimsuchung den Zeichnern und Schreibern der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo. Wer wollte, konnte da noch versuchen, eigene Sicherheiten zu schützen. Galten die Schüsse nicht doch nur frechen Satirikern und Kunden eines jüdischen Supermarkts? Welch zynische oder hilflose Lebenslüge dies war, zeigt sich jetzt.

Nick Alexander

"Kann mir bitte jemand helfen, meinen Freund Nick Alexander zu finden? Er verkauft Merchandise-Artikel für Eagles of Death Metal." Am Freitagabend, kurz nachdem Polina Buckley in New York von der Geiselnahme im Pariser Konzertsaal Bataclan gehört hat, sucht sie mit diesen Worten und einem Foto auf Twitter nach ihrem Freund. Der 36-jährige Brite (Foto: AP) begleitet die Rockband Eagles of Death Metal auf ihrer Tour und organisiert den Verkauf von CDs, T-Shirts und anderen Band-Artikeln bei den Konzerten. Am Samstag erhält Buckley dann die traurige Gewissheit: Auch Nick ist unter den Opfern. Allerdings erfährt sie dies nicht von den Behörden, sondern weil in den sozialen Medien immer mehr Details gepostet wurden, zum Beispiel, dass Nick bei dem Konzert seine Ex-Freundin wiedergetroffen habe. Die Ex-Freundin erzählt, dass sie noch versucht habe, Nicks Blutungen zu stoppen, er dann aber in ihren Armen gestorben sei. Polina Buckley reagiert mit diesem Tweet: "Du bist die Liebe meines Lebens und wirst es immer sein, Nick Alexander".

Mathias und Marie

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(Foto: N/A)

Er strahlt in die Kamera, sie drückt ihm einen Kuss auf die Wange, der Wind weht ihre Haare in sein Gesicht - auf Twitter ist das Selfie von Marie Lausch, 23, und Mathias Dymarski, 22, (Foto: oh) eines der meistgeposteten Fotos am Freitagabend. Dazu die Nachricht: "Mathias und Marie sind unauffindbar. Wenn ihr diese Gesichter gesehen habt, bitte meldet euch #RechercheParis". Seit fünf Jahren sind die beiden Franzosen ein Paar. Sie eine leidenschaftliche Tänzerin, er ein sehr guter BMX-Fahrer. Erst vor ein paar Monaten ist das Paar von Metz nach Paris gezogen. Sie macht dort ein Praktikum beim Kosmetikkonzern Coty. "Die beiden haben die Lebensfreude förmlich eingeatmet", erzählt eine Verwandte der Zeitung Républicain Lorrain. Riesig ist auch die Freude, als sie Tickets für das Konzert von Eagles of Death Metal ergattern. Einem befreundeten Paar schenken sie den Konzertbesuch zum Geburtstag. Am Samstag um 18 Uhr twittert Clara R.: "Die Suche ist beendet. Ich habe keine Worte. Marie und Mathias haben uns verlassen - alle beide."

Guillaume B. Decherf

Es war nur eine kurze Episode in seinem Leben, aber sie hat Guillaume Decherf, 43, sehr geprägt. 1992, da ist er gerade 20 Jahre alt, darf er beim Uni-Radio in Loughborough, wo er als Erasmus-Student Anglistik studiert, seine erste Sendung moderieren. Nächtelang hat er damals in den Archiven des kleines Senders nach den passenden Platten gewühlt, heraus kam: eine Stunde Heavy-Metal. Von diesem Zeitpunkt an ist für ihn klar. Er wird die Musik zu seinem Beruf machen. Decherf (Foto: action press) schafft es auf die "ecole supériere de journalisme", an der viele bekannte französische Publizisten ausgebildet wurden. Zwischen 1999 und 2003 berichtet er für die Libération aus Chicago und trifft dort die Smashing Pumpkins, seine großen Idole. Später schreibt er für den Rolling Stone, ist sogar Chefredakteur beim Hard Rock Mag und landet bei der Zeitschrift Inrocks. Sein letzter Artikel ist eine Rezension des neuen Albums von den Eagles of Death Metal. Er kündigt auch das Konzert an, das er nicht überleben sollte. Er hinterlässt eine Frau und zwei Kinder.

Claire Cama

Gemeinsam mit ihrem Ehemann und ein paar Freunden besucht Claire Camax (Foto: action press) das Bataclan. Sie ist ein Fan von hartem Rock, auf das Konzert der Eagles of Death Metal, hat sie sich lange gefreut. Es ist Zufall, dass er in dem Moment, als die Attentäter den Konzertsaal betreten und zu schießen anfangen, an einer anderen Stelle des Raumes ist als sie. Vermutlich wollte er etwas zu trinken holen. Jetzt lebt er und sie ist tot, die beiden kleinen Kinder haben die Mutter verloren. Jean-Emmanuel, ein Freund des Ehepaars, erinnert sich an die erste Begegnung mit Claire: "Wir haben uns an der Hochschule für Grafik kennengelernt und sehr schnell angefreundet. Ich habe ihr dann einen meiner besten Freunde vorgestellt - und er ist dann ihr Ehemann geworden". Claire Camax, 35, lebte mit ihrer Familie in Houilles nahe Paris, arbeitete seit mehr als zehn Jahren als Grafikerin, entwarf Glückwunschkarten und fertigte Illustrationen Auf dem Bild, das im Internet von ihr zu sehen ist, faltet sie die Hände zu einer Raute, fast so wie Angela Merkel es oft tut.

Ludovic Boumbas

Ludovic Boumbas, Mitte 40, gebürtiger Kongolese aus Brazzaville (Foto: Facebook), und einige Freunde feiern im Café "La Belle Equipe" den 35. Geburtstag einer Bekannten, als plötzlich um 21.35 Uhr bewaffnete Männer das Lokal in der Rue de Charonne stürmen und wild um sich schießen. Mitten im Chaos trifft Boumbas, den seine Freunde alle nur "Ludo" nennen, eine Entscheidung, die ihn das Leben kostet, aber ein anderes Leben rettet. "Er hat sich im Kugelhagel vor eine junge Frau geworfen und wurde selbst getroffen", so schildert ein Augenzeuge dem Le Parisien die Situation. 19 Menschen kommen in dem Café ums Leben. Unter den Toten sind neben Paketzusteller Boumbas, der seinen schweren Verletzung erliegt, auch die beiden tunesischen Schwestern Halima, 34, und Houda Saadi, 33. Boumbas hatte ebenfalls versucht, sie zu retten - vergebens. Doch sein Tod ist trotzdem nicht umsonst. Die junge Frau kann er tatsächlich vor den tödlichen Schüssen bewahren. Sie wird schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht - und überlebt.

Fabian Stech

"Umtriebig" sei er gewesen, sagt sein Kollege Heinz-Norbert Jocks von der Zeitschrift Internationales Kunstforum. Für die war Fabian Stech (Foto: oh) Frankreich-Korrespondent, er führte zuletzt ein großes Gespräch mit dem chinesischen Maler Yan Pei-Ming und schrieb über Damien Hirst. Stech war nach dem Studium und seiner Promotion in Berlin vor zwanzig Jahren nach Frankreich gekommen, lebte mit seiner Frau, einer französischen Anwältin, und zwei Kindern in Dijon. Er war Kritiker, Buchautor, Fotograf, Übersetzer und Lehrer an der Privatschule Les Arcades. "Er war ein Lehrer, der von allen gemocht wurde", teilt die Schule mit. Er habe immer versucht, seinen Schülern einen internationalen Geist zu vermitteln. Die Schüler würden nun von Psychologen betreut. Sein Kollege Jocks schreibt: "Seine Gespräche mit dem Kurator Jérôme Sans, den Künstlern Bertrand Lavier, John M. Armleder, John Baldessari und dem Galeristen Michael Werner sowie seine profunden Texte waren eine große Bereicherung. Sein Geist und sein Auge werden uns fehlen."

Patricia San Martin

Frankreich sollte ein sicherer Zufluchtsort sein für die Familie San Martin. Die Eltern von Patricia, ursprünglich aus Chile, sind überzeugte Kommunisten, doch irgendwann wird es unter dem rechtsgerichteten Pinochet-Regime zu gefährlich für sie. In Sèvres, nördöstlich von Paris, findet die Familie eine neue Heimat. Patricia San Martin (Foto: oh), eigentlich Bibliothekarin von Beruf, arbeitet in der Stadtverwaltung und ist eine der engagiertesten Kräfte im Gewerkschaftsbund CGT. "Es ist eine Tragödie, dass Patricia ausgewandert ist, um vor Extremisten Schutz zu finden, und dann in dem Land, in dem sie diesen Schutz bekam, von religiösen Fanatikern umgebracht wird", sagt Baptiste Talbot, der Generalsekretär der CGT, der seit 20 Jahren mit San Martin befreundet ist. Im Konzertsaal Bataclan löschen Terroristen nicht nur das Leben von Patricia San Martin aus, auch ihre Tochter Elsa, 35, stirbt durch die Kugeln aus den Kalaschnikows. Nur deren kleiner Sohn Louis, fünf Jahre alt, überlebt das Massaker und kann aus dem Konzertsaal flüchten.

Maxime Bouffard

Er war ein "fêtard" sagen Freunde über ihn: Einer der das Leben liebte, der gerne Musik hörte, feierte. Und außerdem leidenschaftlich Rugby spielte. Als seine Schwester die Nachricht erhält, dass auch ihr Bruder Maxime Bouffard (Foto: action press) unter den Todesopfern ist, sitzt sie in einer Bar mitten in Paris. Sie bringt es nicht übers Herz, ihre Eltern, die in einem Dorf im Südwesten Frankreichs leben, persönlich am Telefon zu benachrichtigen. In ihrer Verzweiflung ruft sie Michel Raffalovic, den Bürgermeister des Dorfes Le Coux an und bittet ihn um Hilfe. Der besucht sofort das Elternhaus der Geschwister. "Wir sind dann zu dritt ins Auto gestiegen und nach Paris gefahren", erzählt Raffalovic. Maxime Bouffard war vor vier Jahren aus der Region Périgord nach Paris gezogen. Er hatte zuvor in Sarlat und Biarritz Film studiert. In Paris produzierte er Spots für Bands, macht kleine Trailer. "Maxime stand mitten im Leben, er hatte ein ungeheueres Talent. Er war wie ein geistiger Bruder für mich", sagt Pierre Avezou, einer seiner engsten Freunde.

Der Terror hat nun wahllos Menschen getroffen, die ein freies Leben leben wollten: Christen und Muslime, Gläubige und Atheisten, Junge und Alte, Migranten und Alteingesessene. Er hat allen Menschen gegolten, die es für richtig halten, dass Menschen ein Café, eine Konzerthalle, ein Fußballstadion besuchen dürfen. Er gilt noch immer allen, die nicht so glauben, denken, leben wollen, wie es die Terroristen des "Islamischen Staates" vorzuschreiben wünschen. Die Morde sind die ultimative und totale Selbstüberhebung von Menschen über andere Menschen.

Was dagegensetzen? Das Gedenken, die Erinnerung an die Ermordeten. Die Geschichten vom Schmerz der Angehörigen und der Überlebenden. Und dann die Geschichten vom Lebensmut, der stärker ist als alle Heimsuchung, und von der Menschlichkeit, die alle Menschenverachtung besiegt. Das gibt den Toten die Würde, auf die es die Terroristen abgesehen hatten. Es entlarvt das Niedrige und Erbärmliche der Mörder, die Lüge im Anspruch, im Namen des Höchsten zu handeln. Und hält die Hoffnung aufrecht, dass, wenn kein Leben ganz sinnlos ist, auch kein Tod ganz sinnlos sein kann.

Schweigen für die Toten: Paris am Montag. (Foto: epa)
© SZ vom 17.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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