Tarifrunden 2016:Bsirskes Mengenlehre

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Derzeit gibt es in Deutschland so gut wie keine Inflation. Das könnte die Lohnverhandlungen einfacher machen. Tatsächlich macht dieser Umstand sie aber nur noch komplizierter.

Von Detlef Esslinger

Zu den Fragen, die gar nicht so leicht sind, wie sie klingen, gehört diese hier: Was ist besser, eine Lohnerhöhung um 2,5 Prozent oder eine um ein Prozent?

Natürlich ist jedem Menschen immer die höchste Erhöhung am liebsten. Wer also zu den sechs Millionen Beschäftigten gehört, für die Arbeitgeber und Gewerkschaften derzeit Tarifverhandlungen führen, und die Hoffnung hegt, im Mai vielleicht ein Plus von 2,5 Prozent erstreiken zu können, der wird sich im April kaum mit einem Prozent zufriedengeben. Aber darum geht es hier nicht. Der Punkt ist, dass 2,5 Prozent sehr viel oder sehr wenig sein können - je nachdem, in welchem Jahr solch ein Tarifabschluss erzielt wird.

Die Tarifrunden dieses Frühjahrs sind von einer Besonderheit gekennzeichnet: Sie finden zu einer Zeit statt, in der es praktisch keine Inflation gibt. 0,3 Prozent beträgt sie derzeit; die Bundesbank prognostiziert fürs gesamte Jahr sogar nur 0,25 Prozent. Im Jahr 2012 - nur als Beispiel - lag sie bei zwei Prozent. Das heißt: Eine Tariferhöhung in jenem Jahr um 2,5 Prozent - auch diese Zahl nur als Beispiel - hätte den Reallohn jedes Gehaltsempfängers lediglich um ein halbes Prozent erhöht. Eine ebensolche Erhöhung in diesem Jahr käme hingegen real einem Plus von mehr als zwei Prozent gleich. Und genau das macht diese Tarifrunden so schwierig.

Bei Nullinflation wäre sogar ein Prozent mehr Geld ein Erfolg

Lohnerhöhungen bedeuten für die meisten Arbeitgeber nichts als Kosten; Arbeitnehmer zum Beispiel in der Metall- und Elektroindustrie kaufen sich vom zusätzlichen Geld ja keinen der Schaufelbagger und Turbinen, die ihre Firma produziert. Viele Arbeitgeber begreifen die niedrige Inflationsrate daher als günstige Gelegenheit für einen Deal mit den Gewerkschaften: Endlich mal könnte man zu einem Tarifabschluss finden, der ihnen wenig zusätzliche Kosten beschert, der den Arbeitnehmern aber trotzdem mehr gibt als manch höherer Abschluss aus den vergangenen Jahren. Das ist der Grund, warum die Arbeitgeber in den Tarifrunden für 2016 Angebote mit so niedrigen Prozentzahlen vorlegen: 1,3 Prozent am Bau, ein Prozent im öffentlichen Dienst, 0,9 Prozent in der Metall- und Elektroindustrie.

Natürlich werden die Arbeitgeber noch nachbessern müssen; Angebote sind schließlich keine Ergebnisse. Aber die Null-inflation stellt die Gewerkschafter psychologisch vor beträchtliche Schwierigkeiten. Welchem Bsirske will man zumuten, dass er in ein paar Wochen vor seine Mitglieder treten und stolz verkünden soll, er habe für sie ein Plus von - beispielsweise - 1,8 Prozent erkämpft? Bis er ihnen erklärt hat, dass das faktisch mehr ist als die 3,5 Prozent von vor vier Jahren, haben sie ihn aus dem Saal gebuht. Also reagiert der Verdi-Chef auf das Angebot der Arbeitgeber mit einer Inflationsprognose der führenden Wirtschaftsforscher, die zwar schon ein halbes Jahr alt war, aber den Vorteil hatte, einigermaßen hoch zu sein. An diesem Donnerstag legen dieselben Forscher eine neue vor; zum Bedauern vermutlich sämtlicher Gewerkschafter.

© SZ vom 14.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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