Symbole:Flaggen - der Stoff, aus dem die Staaten sind

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Tim Marshall: Im Namen der Flagge. Die Macht politischer Symbole. Aus dem Englischen von Birgit Brandau. dtv Verlag München 2017, 320 Seiten, 24 Euro. E-Book: 20,59 Euro. (Foto: N/A)

Der Bestsellerautor Tim Marshall spürt der "Macht" von Flaggen.

Von Moritz Geier

Eigentlich sollte der Fußball im Mittelpunkt stehen an diesem Oktoberabend in Belgrad vor drei Jahren, die serbische Nationalmannschaft traf auf die Landesauswahl Albaniens. Am Ende aber boten sich den Zuschauern Szenen einer Massenausschreitung: Fußballer prügelten sich wie Hooligans, Plastikstühle und Flaschen flogen durch die Luft, erst auf dem Platz und dann auch auf den Rängen.

Das Spiel wurde abgebrochen, sogar die politischen Beziehungen beider Länder nahmen weitreichenden Schaden. Und all das wegen eines Stücks Stoff: Ein albanischer Nationalist hatte per Drohne eine großalbanische Flagge über das Spielfeld schweben lassen. Ein serbischer Spieler hatte sie heruntergezogen, damit das Spiel weitergehen könne. Albanische Spieler wiederum fühlten sich dadurch beleidigt, sie rempelten und rissen dem Serben die Fahne aus der Hand, und das Chaos nahm seinen Lauf.

Über diese erstaunliche Macht, die Flaggen auch in der modernen, globalisierten Welt haben, hat Tim Marshall, Autor des Bestsellers "Die Macht der Geographie", ein Buch geschrieben. Es ist eine berechtigte These: Flaggen üben Macht aus, als politische Symbole, als Symbole für Nationalität und Zugehörigkeit, bisweilen mit so viel Bedeutung versehen und emotional aufgeladen, dass Menschen sich ihretwegen, siehe Belgrad, die Nasen blutig schlagen.

Die Macht bestehe in den Gefühlen, die Flaggen wecken und verkörpern, findet Marshall. Leider jedoch versäumt er es, sich in seinem Buch auch wirklich an dieser These abzuarbeiten; nur teilweise gelingt es ihm, diese Macht verständlich zu machen - und kritisch zu hinterfragen.

So wie im Kapitel über die Flagge des sogenannten "Islamischen Staats" (IS). Da zeigt Marshall nachvollziehbar, was ein simples Stück Tuch bewirken, was es weltweit hervorrufen kann: Hingabe, ja Fanatismus auf der einen Seite, Angst auf der anderen.

Hinter der Gestaltung der Fahne steckt Kalkül: ein weißer Kreis, schwarzer Hintergrund, darauf in arabischer Schrift die Schahada, das muslimische Glaubensbekenntnis: Es gibt keinen Gott außer Gott, und: Mohammed ist der Gesandte Gottes. Panislamische Symbole eigentlich, die der IS vereinnahmt und öffentlichkeitswirksam zu seinem Zeichen gemacht hat.

Von schwarzen Bannern soll angeblich schon Mohammed gesprochen haben. "Siehst du schwarze Banner nahen, eile zu ihnen, selbst wenn du über Schnee kriechen musst, denn unter ihnen ist der Kalif", heißt es in einer Prophezeiung. Eine weitere verspricht: Zwischen dem Heer des Westens und dem Heer unter den schwarzen Bannern wird es zu einer großen Schlacht kommen.

Für die Anhänger des IS ist die Flagge so ein Symbol dafür geworden, Gottes Werk zu vollbringen. Die Flagge der Terrormiliz, schreibt Marshall, stehe für die Verwirklichung des Kalifats, sie sei ein "panmuslimisches Signal". Gleichzeitig haben die wehenden schwarzen Fahnen in den brutalen Hinrichtungsvideos des IS und in den Aufnahmen vorrückender IS-Truppen auf der ganzen Welt eine genau so intendierte Botschaft verbreitet: Fürchtet euch.

Hätte sich Tim Marshall auch in den anderen Kapiteln so fokussiert mit der ambivalenten Macht der Flaggen auseinandergesetzt, er hätte ein richtig gutes Buch schreiben können. Stattdessen aber macht er genau das, was er - wie er in der Einleitung schreibt - eigentlich nicht machen will: Er erzählt in neun Kapiteln, grob gegliedert in Weltregionen, die Geschichten einzelner Flaggen nach.

Was diese Farbe bedeutet, was jene, solche Sachen - das kann man auch im Lexikon nachschlagen. Weil Marshall insgesamt zu viele Flaggen bespricht, bleiben seine Ausführungen zwangsweise oberflächlich. Und meist kommt Marshall zu dem gleichen Ergebnis: Die Flagge einer Nation erfüllt den Zweck, Menschen zu vereinen, Gemeinsamkeit und Identifikation zu stiften. Erkenntnisgewinn? Nun ja.

Da versandet auch der Versuch, die mäandernden Erzählungen mit allerlei fun facts aufzulockern. Etwa wie Johann Wolfgang Goethe die Flagge Großkolumbiens beeinflusste; warum die meisten Schiffe weltweit unter der Flagge Panamas segeln; oder wie man - das ist in amerikanischen Gesetzen tatsächlich ausführlich vorgegeben - eine zerschlissene US-Flagge würdevoll zu verbrennen hat.

Das Manko dabei: Dem Buch fehlt die kritische Tiefe. So lässt Marshall etwa den ewigen Kampf Rechtsextremer um Deutungshoheit und Vereinnahmung nationaler Flaggen nur anklingen. Schade, denn hier hätten sich nicht nur mit England und Deutschland interessante Fallstudien angeboten.

Spannend wären auch Antworten auf jene Fragen, mit denen Marshall sich gar nicht beschäftigt. Etwa wie viel flaggenschwenkenden Patriotismus eine liberale, weltoffene und demokratische Gesellschaft eigentlich verträgt. Und warum Nationalflaggen - auch hierzulande - in der Populärkultur eine derartige Renaissance erleben.

Denn die Frage muss erlaubt sein: Wäre es nicht eigentlich wünschenswert, wenn nationale Symbole an Bedeutung und emotionaler Aufladung verlieren? Das Beispiel Belgrad zeigt ja, wie eng Patriotismus verbandelt ist mit Ausgrenzung und Fremdenhass.

Keiner sollte das besser wissen als die Deutschen. Im Zuge der Aufarbeitung der Nazizeit hat sich das Land eine durchaus gesunde Scheu vor nationalen Insignien angeeignet. In den Achtzigerjahren hielt Jürgen Habermas für Schwarz-Rot-Gold bereits die Grabrede, er sah eine "postkonventionelle Identität" heraufdämmern, in der nationale Symbole "ihre Prägekraft verloren haben". Spätestens seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 wissen wir: Das Gegenteil ist der Fall.

© SZ vom 02.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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