Stuttgart:Hoffen auf den Joschka-Faktor

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Veronika Kienzle, Kandidatin von Bündnis 90/Die Grünen. (Foto: Sebastian Gollnow/picture alliance/dpa)

Berufsziel Tänzerin: Veronika Kienzle will für die Grünen Oberbürgermeisterin werden, doch sie hat keine für Politiker übliche Ausbildung. Dennoch rechnet sie sich Chancen aus, wegen ihres ungewöhnlichen Lebenslaufs - und der Karriere des früheren Außenministers Fischer.

Von Claudia Henzler, Stuttgart

Eigentlich würden sie jetzt Kabel verlegen und Lautsprecher anschließen: Stuttgarts Grüne hatten für diesen Donnerstag ihren Wahlkampfhöhepunkt mit Annalena Baerbock geplant. Die Bundesvorsitzende der Grünen wollte mit Veronika Kienzle auf dem Marienplatz im Stuttgarter Süden auftreten und um Stimmen für die Oberbürgermeisterwahl am 8. November werben. Stattdessen werden sich die Frauen nun virtuell unterhalten - und damit wohl weniger potenzielle Wähler erreichen.

Die Pandemie bremst den Wahlkampfendspurt aus. Insbesondere für die Grünen ist das ein Problem, denn sie müssen um ihre Hochburg bangen. Kurz vor dem Wahltag gilt als völlig offen, wer Fritz Kuhn nachfolgt.

Ein überraschender Verzicht

Der bekannte Politiker war 2012 als erster Grüner an die Spitze einer Landeshauptstadt gewählt worden. Die Partei war bis zum Januar fest davon ausgegangen, dass er noch einmal antreten würde. Dann erklärte der 65-jährige Kuhn jedoch überraschend und mit Verweis auf sein Alter, dass er nicht für eine weitere Amtszeit kandidieren wolle. Die ist in Baden-Württemberg mit acht Jahren außergewöhnlich lang.

Schnell wurde damals öffentlich über mögliche prominente Alternativen spekuliert - der ehemalige Parteivorsitzende Cem Özdemir war im Gespräch, auch Landtagspräsidentin Muhterem Aras. Am Ende nominierten die Stuttgarter Grünen Veronika Kienzle, 58, die in der eigenen Partei als engagierte Kommunalpolitikerin gilt, aber relativ unbekannt war.

Kienzle ist seit 14 Jahren Bezirksvorsteherin von Stuttgart Mitte, also eine ehrenamtliche Stadtteilbürgermeisterin. Sie mag den Kontakt zu Bürgern, ist im ehrenamtlichen Milieu vernetzt und bei den lokalen Themen tief im Stoff. Unterschätzt haben die Grünen offensichtlich, wie stark die Frage in den Vordergrund rücken würde, ob die Kandidatin auch ausreichend formale Qualifikationen mitbringt. Die Karriere des früheren grünen Außenministers Joschka Fischer, dessen Vita ohne Bildungsabschlüsse auskam, hat nichts daran geändert, dass ungewöhnliche Lebensläufe als erklärungsbedürftig gelten.

Studium der Eurythmie

Viele Medien haben in den Fokus gestellt, dass Kienzle, die im Künstlerdorf Worpswede aufgewachsen ist, vor 40 Jahren Eurythmie studiert hat, eine mit der Waldorfpädagogik verbundene Bewegungskunst. "Ich war jung und wollte tanzen", sagt sie selbst dazu. Die Ausbildung war der Einstieg in eine Laufbahn im Kulturbetrieb, in dem sie bald in Richtung Öffentlichkeitsarbeit wechselte. Von dort führte ihr Weg in den öffentlichen Dienst, wo Kienzle Projekte zur Flüchtlingshilfe und Bürgerbeteiligung leitete.

Die Kandidaten von CDU und SPD haben Jura beziehungsweise Volkswirtschaft studiert. Beide sind solide, ebenfalls wenig bekannte Lokalpolitiker. SPD-Fraktionsvorsitzender Martin Körner hat Außenseiterchancen, Umfragen zufolge kann sich neben Kienzle vor allem der CDU-Bewerber Hoffnungen machen: Frank Nopper, 59, ist seit 2002 Oberbürgermeister von Backnang, einer Stadt mit 38 000 Einwohnern im Stuttgarter Umland.

Zweiter Wahlgang wahrscheinlich

Überraschungen sind jedoch möglich, denn das Kommunalwahlrecht des Bundeslandes hat ein paar Besonderheiten zu bieten. Anders als etwa in Bayern müssen Bewerber nicht von einer Partei oder Wählergruppe nominiert werden. In Stuttgart brauchen Kandidaten lediglich 250 Unterstützer-Unterschriften. Und anders als in Bayern werden die Bewerber auf dem Stimmzettel dann nicht nach der Bedeutung des "Wahlvorschlagsträgers" sortiert (im Freistaat stehen CSU-Bewerber grundsätzlich oben). In Baden-Württemberg entscheidet das Los. Das hat zur Folge, dass in Stuttgart diesmal der 30-jährige Einzelbewerber Marian Schreier ganz oben steht, Bürgermeister einer 4600-Einwohner-Stadt in Südbaden. Die Kandidatin der Grünen findet sich auf Platz zwölf.

Als sicher gilt, dass die Wahl nicht im ersten Wahlgang entschieden wird. Für den zweiten Durchgang hat Baden-Württembergs Kommunalwahlrecht eine weitere Besonderheit parat: Es können mehr als zwei Bewerber antreten. Für den Sieg reicht dann die relative Mehrheit.

Würde CDU-Mann Nopper gewinnen, müsste er mit einer schwierigeren Ausgangslage klarkommen als der in Stuttgart als idealtypisch verehrte frühere Oberbürgermeister Manfred Rommel, auf den er sich gerne bezieht. Denn Stuttgarts Gemeinderat besteht aus acht Fraktionen, von denen die Grünen seit der Kommunalwahl 2019 mit 16 Räten die größte stellen. Die CDU verfügt nur über zwölf von 60 Sitzen.

Lähmendes Bahnhofsprojekt

Manche Entscheidungsprozesse verlaufen in Stuttgart zäh - etwa zur Sanierung der alten Oper oder zum Ausbau des Fahrradnetzes. Dass in der Stadt Stillstand herrsche, wie manche Kandidaten im Wahlkampf behaupteten, ist jedoch eine Übertreibung. Allein im Kulturbereich und allein in den vergangenen drei Jahren wurden mehrere große Einrichtungen eröffnet. Lähmend ist jedoch das gigantische Städtebauprojekt "Stuttgart 21", das mitten in der Stadt ein Loch reißt und auch im Rathaus Kapazitäten bindet.

In fünf Jahren soll der Bau des unterirdischen Bahnknotens fertig sein, dann werden in zentraler Lage 60 Hektar Bauland frei. Weitere Wohngebiete sind im Bau und in Planung- aktuell aber mangelt es an Wohnungen. Die Mietpreise sind daher eines der bestimmenden Themen im Wahlkampf.

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