Streitgespräch:Verfolgt von den Erinnerungen

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Muss Deutschland mehr tun für traumatisierte Flüchtlinge? Ein Gespräch über nötigen Schutz und rechtsstaatliche Prinzipien.

Interview von Ferdos Forudastan und Bernd Kastner

Fast jeder dritte Flüchtling, der es bis Deutschland schafft, hat Entsetzliches erlebt und ist darüber psychisch krank geworden. Viele leiden unter Depressionen und benötigen Therapie. Um Traumatisierte muss sich der Staat besonders kümmern. Tut er das auch? Jürgen Soyer, Chef des Münchner Behandlungszentrums für Flüchtlinge und Folteropfer "Refugio", diskutiert mit Bayerns Innenminister Joachim Herrmann von der CSU, dessen Partei innerhalb der Bundesregierung über Jahre hinweg immer wieder auf schärfere Asylregeln gedrungen hat.

SZ: Herr Herrmann, waren Sie eigentlich schon mal bei Refugio?

Joachim Herrmann: Nein. Refugio war zwar schon mal bei mir, aber ich war noch nicht dort.

Hatten Sie kein Interesse, das Zentrum kennenzulernen?

Herrmann: Doch, ich war bisher aber noch nicht eingeladen. Gerne werde ich Refugio aber mal besuchen.

Jürgen Soyer: Sie sind hiermit herzlich eingeladen.

Warum erst jetzt, Herr Soyer?

Soyer: Sie haben uns auf eine gute Idee gebracht.

Zu Refugio kommen Geflüchtete, die Schreckliches hinter sich haben: Krieg, Folter, Vergewaltigung. Wie erleben Sie die Aufnahme und Begleitung dieser Menschen durch staatliche Stellen?

Soyer: Die einschlägige EU-Richtlinie verpflichtet aufnehmende Staaten, ein besonderes Augenmerk auf diese Schutzsuchenden zu legen. Das passiert aber leider nicht.

Herrmann: Anders als ein gebrochener Fuß ist ein Trauma nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Das jeweilige Schicksal rechtlich zu würdigen, liegt in der Verantwortung des Bundes, des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge.

Soyer: Die Aufnahmerichtlinie beschreibt die Aufnahme, und dafür ist das Land zuständig.

Herrmann: Das stimmt. Aber viele Flüchtlinge äußern sich nicht gleich im ersten Gespräch mit einem Vertreter ihrer Unterkunft zu ihrer Situation. Trotzdem beschäftige ich mich gerne mit der Frage, wie wir schon bei der Erstaufnahme noch schneller als bisher feststellen können, ob jemand traumatisiert ist.

Wie könnte so eine Verbesserung denn konkret aussehen?

Soyer: In den Unterkünften fehlen psychologisch geschulte Mitarbeiter und Fachkräfte, die erkennen, wenn jemand Hilfe braucht, und dafür sorgen können, dass die Menschen die auch bekommen. Außerdem brauchen Traumatisierte ein Gefühl der Sicherheit. Dazu gehört ein abschließbarer Raum, die Möglichkeit zu arbeiten oder etwas Sinnvolles zu tun, damit die schlimmen Erinnerungen nicht das gesamte Denken okkupieren.

Ziemlich viel, was da nicht funktioniert.

Herrmann: Ich sehe das anders. In allen sogenannten Anker-Einrichtungen haben wir Ärztezentren. Manche Flüchtlinge sind vermutlich froh, wenn sie nach der Flucht erst mal durchatmen können. Da möchte nicht jeder sofort mit einer Arbeit loslegen. Das eigentliche Problem besteht übrigens bei denen, die nach sorgfältiger Prüfung kein Bleiberecht zugesprochen bekommen. Sie stehen unter einer besonderen psychischen Belastung. Die kann ich ihnen aber leider nicht nehmen.

Momente, die ein Leben prägen können: Ein Helfer bringt ein verwundetes Kind in Sicherheit, aufgenommen in Syrien Anfang 2018. (Foto: Bassam Khabieh/REUTERS)

Sie als Landesinnenminister sind zuständig für die medizinische Versorgung, also auch für die Flüchtlinge, die das Bamf abgelehnt hat und die - etwa weil sie gegen die Entscheidung klagen - noch eine ganze Weile in den "Anker-Zentren" bleiben.

Herrmann: Wir kümmern uns auch um diese Menschen. Unser Land verlassen müssen sie dennoch. Es muss einen Unterschied geben zwischen Bleibeberechtigten und solchen, die es nicht sind. Unabhängig davon bauen wir die Angebote für Traumatisierte aus, und schon jetzt ist vieles besser als noch vor einiger Zeit.

Soyer: Deutschland hat viel für Geflüchtete getan. Aber die Lage der besonders schutzbedürftigen Traumatisierten ist nicht besser, sondern schlechter geworden. In den "Anker-Zentren" finden Anhörungen während der ersten fünf Tage nach der Ankunft statt. Dabei brauchen Menschen eine ganze Weile, bevor sie über schreckliche Erlebnisse sprechen können.

Herrmann: Eine ganze Weile heißt manchmal Jahre. Aber so lange kann man doch nicht in jedem Fall warten, bis über einen Asylantrag entschieden wird.

Soyer: Aber man muss ihnen wenigstens ein paar Wochen lang Zeit geben und ihnen erlauben, Informationen über eine Traumatisierung nachzureichen. Hinzu kommt: Seit einiger Zeit genügt es nicht mehr, wenn psychologische Psychotherapeuten den Betroffenen attestieren, dass sie traumatisiert oder suizidgefährdet sind. Anerkannt werden nach einem neuen Gesetz, das bundesweit gilt, nur noch Gutachten von Psychiatern, also Ärzten. Die sind aber so überlastet, dass viele Geflüchtete gar nicht die Möglichkeit haben, sich an sie zu wenden. Traumatisierte haben dann keine Chance, ihre Erkrankung im Asylverfahren geltend zu machen.

Ist es nicht nachvollziehbar, dass der Staat genau hinschaut? Nicht jeder Flüchtling, der eine Traumatisierung geltend macht, ist wirklich erkrankt.

Soyer: Sicher muss man sich jeden Fall sorgfältig ansehen. Aber warum sollen das nur noch Psychiater können? Psychologen mit einer jahrelangen therapeutischen Ausbildung erkennen, ob jemand wirklich erkrankt ist. Ihre Stellungnahmen werden nicht mehr anerkannt. Das ist ein riesiges Problem, weil Flüchtlinge ihre Traumatisierung nicht mehr nachweisen können.

Herrmann: Mit Blick auf die weitreichenden Folgen, die ein solches Gutachten für den Ausgang eines Asylverfahrens haben kann, hat der Bund einen strengen Maßstab angelegt. Ich glaube, dass das System der Begutachtungen bei den Bamf-Verfahren in der Regel funktioniert, kann aber nicht ausschließen, dass es auch Fälle von Traumatisierung gibt, die nicht erkannt werden.

Wenn Traumatisierten die Abschiebung nach Italien, Griechenland oder in ein anderes europäisches Land bevorsteht, argumentieren die Behörden, dass sie auch dort medizinische Hilfe bekommen : Ist da nicht was dran?

Soyer: Manchmal ja. Wir attestieren nicht jedem, dass er wegen seiner Traumatisierung hierbleiben muss, sondern orientieren uns an diesen Fragen: Wie schlecht geht es der Person? Hat sie in Deutschland ein Netzwerk und hat sie sich stabilisiert? Würde sich ihre Situation massiv verschlechtern, wenn man sie rausreißt? Vor Kurzem haben wir mit einigen Stellen in Italien telefoniert und gesagt, unser sehr kranker Klient muss, wenn er dorthin abgeschoben wird, sofort psychiatrisch betreut werden. Die Antwort: Der soll erst mal kommen, dann schauen wir weiter. Das ist zu wenig. So ein Mensch braucht sofort Hilfe, sonst droht das Schlimmste.

Jürgen Soyer (li.) leitet das Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer „Refugio“, Joachim Herrmann (CSU) ist bayerischer Innenminister. (Foto: Florian Peljak)

Müsste man in solchen Fällen nicht unbürokratisch handeln?

Herrmann: Wir müssen uns jeden Einzelfall anschauen. Eines fällt aber schon auf, Herr Soyer: Sie und andere kritisieren das Versorgungsniveau in Deutschland als unzureichend. Geht es andererseits um Dublin-Rückführungen in andere EU-Länder, sagen Sie, unsere europäischen Nachbarn leisten weniger Hilfe als wir. Wenn wir ehrlich sind: Wir leisten für Flüchtlinge mehr als die allermeisten EU-Länder. Das muss man nicht immer nur schlechtreden.

Der Fall von eben ist doch recht plastisch: Wenn es keinen Anhaltspunkt gibt, dass Italien diesen Menschen adäquat betreut, dann kann man nicht sagen: Ist ein EU-Land, damit ist eine Abschiebung okay.

Herrmann: Einerseits ja, deshalb prüft das Bamf jeden Einzelfall genau. Und so wird auch mal entschieden, dass jemand aus gesundheitlichen Gründen bleiben darf, obwohl eigentlich ein anderes EU-Land zuständig ist. Wenn man das aber immer machen würde, kämen alle Flüchtlinge nach Deutschland oder dürften bleiben, weil das Niveau der Versorgung fast überall in der EU niedriger ist. Das kann nicht Sinn eines gemeinsamen Europas sein, und das kann ich der Mehrheit der deutschen Bevölkerung auch nicht vermitteln.

Herr Soyer, wird tatsächlich jeder Einzelfall geprüft?

Soyer: Eine Person, die keine Einrichtung wie Refugio an der Seite hat, hat Pech. Ich wünsche mir eine Vorgabe an die Sachbearbeiter, dass sie bei Hinweisen auf eine Traumatisierung der Sache nachgehen müssen. Dass die Behörden eine Bescheinigung für eine Traumatisierung verlangen, ist ja völlig richtig. Dafür müssen die Flüchtlinge aber Zeit kriegen und Zugang zu Fachärzten haben.

Herrmann: Der Rechtsstaat hat klare Regeln: Wenn Abschiebehindernisse, etwa eine Krankheit, bestehen, wird der Betroffene nicht gegen seinen Willen ins Ausland gebracht.

Soyer: Im ersten Halbjahr 2019 wurden 20 Abschiebungen wegen Suizidversuchen abgebrochen. Wir haben einen Mann in Therapie, der nach Afghanistan geflogen werden sollte. Den hat das Bundesverfassungsgericht gerade noch von der Gangway geholt - er ist trotzdem zerbrochen. Er konnte vorher arbeiten, hatte sich stabilisiert, jetzt ist er seit drei Jahren arbeitsunfähig. Solche Fälle dürfen nicht passieren.

Herrmann: Der Rechtsstaat darf keine falschen Entscheidungen treffen. Aber man kann nie ganz ausschließen, dass bei Tausenden von Fällen auch mal ein Fehler passiert. In den von Ihnen genannten Fällen kam es letztendlich nicht zur Ausreise.

Soyer: Ein Wort zu den Sammelflügen: Viele Afghanen, die hierbleiben dürfen, entwickeln wegen der Nachrichten über diese Abschiebungen wieder massiv Symptome von Traumatisierung. Die Abschiebungen führen ihnen vor Augen, dass es auch für sie irgendwann zurück in dieses Land gehen kann.

Selbst wenn sie einen sicheren Bleibestatus haben?

Soyer: Der Schutzstatus ist während der ersten Jahre immer befristet. Und: Traumatisierung lässt sich nicht steuern. Ängste kommen unwillkürlich hoch. Es wurden bisher einige Hundert Afghanen abgeschoben - alte Wunden aufgerissen hat das allerdings bei Zehntausenden. Ist es das wert? Wir kriegen Afghanen zurück in die Therapie, die wieder bei null anfangen müssen.

Herrmann: Wir haben bei rechtsstaatlichen Grundsätzen zu bleiben. Das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte entscheiden, ob jemand Schutz bekommt. Da kann ich doch nicht sagen, nur damit die, die hierbleiben dürfen, keine unbegründete Angst haben, schiebe ich die anderen nicht ab. Und vergessen Sie bitte nicht: Ein großer Teil der abgeschobenen Afghanen sind als Straftäter aufgefallen. Hier geht es auch um Sicherheit.

Soyer: Ich sage nicht, dass man generell nicht abschieben darf. Aber muss man Menschen ins Kriegsland Afghanistan abschieben und dabei Zehntausende gut Integrierte grundlegend verunsichern?

Herrmann: Bundestag und Bundesregierung sagen klar, Abschiebungen nach Afghanistan sind möglich. Wir gehen dabei mit Augenmaß vor, jeder Fall wird genauestens geprüft.

© SZ vom 05.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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