Streit um EU-Urheberrechtsreform:Ein erstaunlich menschlicher Bot-Mob

Lesezeit: 4 min

In ganz Europa demonstrieren mehr als 150 000 Menschen gegen die EU-Urheberrechtsreform. Der Kampf um die Deutungshoheit wird schärfer - und erreicht nun auch die CDU.

Von Simon Hurtz, Berlin

Der EU-Verhandlungsführer für die Urheberrechtsreform Axel Voss (CDU) ist Lieblingsgegner der Demonstranten, nicht nur hier in Berlin. (Foto: Hannibal Hanschke, Reuters)

Der Kampf um die Deutungshoheit beginnt, noch bevor die letzten Demonstranten zuhause angekommen sind. Während Zehntausende Menschen am Samstag durch Berlin laufen, verbreitet sich im Netz ein Zitat des CDU-Europapolitikers Daniel Caspary. "Wenn amerikanische Konzerne mit massivem Einsatz von Desinformationen und gekauften Demonstranten versuchen, Gesetze zu verhindern, ist unsere Demokratie bedroht", hatte er der Bild-Zeitung gesagt.

Caspary hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können. Mehr als 150 000 Menschen sind in ganz Europa auf die Straße gegangen, um gegen Artikel 13 der Urheberrechtsreform zu protestieren. Seine Unterstellung ärgert nicht nur die Teilnehmer, die spöttisch fragten, wo sie denn ihr Demo-Geld abholen könnten. "Wahnsinn, wie bei manchen die Sicherungen durchbrennen", twittert Juso-Chef Kevin Kühnert. Auch aus der eigenen Partei erhält Caspary heftige Gegenstimmen. "Ich finde für diesen Irrsinn keine Worte mehr", sagt CDU-Politiker Thomas Jarzombek. "Egal welcher Meinung man ist, man muss immer Respekt vor der Meinung Andersdenkender haben."

"Irrsinn" und "durchgebrannte Sicherungen", das ist der Tonfall, in dem der Streit um die Reform des Urheberrechts seit Monaten abläuft. Alle Argumente sind längst ausgetauscht. Die Richtlinie stärke die Rechte der Künstler und Kreativen, sagen Befürworter. Die Reform sei ein Geschenk für Musik-, Film- und Verlagslobby, entgegnen Kritiker. Außerdem laufe Artikel 13 auf sogenannte Upload-Filter hinaus, die das freie Netz bedrohten und womöglich Grundrechte verletzten. Wer am Samstag die Berliner Demonstration gegen Artikel 13 begleitet und mit Teilnehmern spricht, erfährt inhaltlich also nichts Neues. Wichtig sind drei Fragen: Wie viele? Wer und warum? Was jetzt?

Demonstrationen sind keine Fußballspiele. Niemand zählt am Eingang die Stadionbesucher. Doch selbst vorsichtigen Schätzungen zufolge sind in Deutschland mehr als 100 000 Menschen in gut 50 Städten auf der Straße. Allein in München sollen es 50 000 sein, in Berlin beteiligen sich wohl mehrere Zehntausend. Das überrascht Polizei und Organisatoren. Der Demonstrationszug muss die Route ändern, weil die Straßen zu schmal sind.

Die Teilnehmer unterscheiden nicht mehr zwischen Online- und Offline-Leben

"Ich habe viele netzpolitische Demonstrationen in Berlin erlebt", sagt Markus Beckedahl, Gründer des Blogs Netzpolitik.org. "Von der Vorratsdatenspeicherung über Zensursula bis Acta. Diese Demo ist größer als die früheren." Er war am Samstag in Berlin dabei und freut sich über die "größten Netz-Proteste, die jemals in Deutschland auf der Straße gesehen wurden". Die Teilnehmer unterscheiden nicht mehr zwischen Online- und Offline-Leben. Was im Netz passiert, ist für sie genauso real wie der analoge Raum. Deshalb demonstrieren sie gegen eine Reform, von der sie fürchten, dass sie ihren Alltag entscheidend verändern könnte.

Wer geht warum auf die Straße? Glaubt man dem CDU-Abgeordneten Sven Schulze: Bots. Glaubt man der EU-Kommission: ein "Mob". Glaubt man Verhandlungsführer Axel Voss (CDU), der die Reform seit Jahren vorantreibt: inhaltlich Ahnungslose und von Google Instrumentalisierte. Das sind die Vorwürfe, die sich Reformgegner oft anhören müssen.

Es ist ein erstaunlich menschlicher und ausgesprochen friedlicher Bot-Mob, der sich auf dem Potsdamer Platz in Berlin versammelt und am Willy-Brandt-Haus vorbei Richtung EU-Vertretung durch die Berliner Straßen zieht. "Wir sind keine Bots", steht auf Dutzenden Schildern.

Die dritte Behauptung ist weniger leicht zu entkräften. "Ich bin gegen Artikel 13, weil Youtube dann dichtmachen muss", sagt der 15-jährige Leon. Was genau in Artikel 13 steht, weiß er nicht. "Dann müssen alle Plattformen filtern und Strafen zahlen", vermutet sein Freund Ben. Zwei Nachfragen später entschuldigen sie sich, ganz genau hätten sie sich nicht informiert. "Aber wir schauen das noch mal nach."

Nicht alle Teilnehmer der Demo können erklären, wogegen sie protestieren. Die Schlagwörter "Artikel 13" und "Upload-Filter" fallen immer, danach werden die Erklärungen manchmal vage. Doch auch Reformbefürworter sind mehrfach durch Falschbehauptungen und Ahnungslosigkeit aufgefallen, Axel Voss allen voran. "Warum sollten sich Schüler besser auskennen müssen als Politiker, um demonstrieren zu dürfen?", antwortet eine ältere, inhaltlich gut informierte Frau.

Nicht alle, aber viele können präzise begründen, warum sie Artikel 13 problematisch finden

Außerdem überwiegen die Gegenbeispiele. Von knapp zwei Dutzend Jugendlichen, die ihre Motivation erklären, können mehr als die Hälfte präzise begründen, warum sie Artikel 13 für problematisch halten, obwohl das Wort "Upload-Filter" gar nicht darin auftaucht. Einige sprechen auch über Artikel 11 und 12. "Die Reform tut nur so, als würde sie Urhebern etwas Gutes tun", sagt Laura, 16. Sie hat auf Youtube Videos gesehen, die sich mit dem Leistungsschutzrecht in Artikel 11 auseinandersetzen und erklären, wie Artikel 12 Verlage zulasten von freien Journalisten begünstigt. Kein einziger sagt: Wir sind gegen Urheber oder Urheberrecht. Alle sind sich einig: Kreative sollen von ihrer Arbeit leben können.

"Ich habe den Eindruck, dass die Politik unterschätzt hat, wie sehr die Youtuber in der Lage sind, ihre Zuschauer auf die Straße zu bringen", sagt Organisationsforscher Maximilian Heimstädt. Tatsächlich scheint vielen Befürwortern der Reform nicht klar gewesen zu sein, welches Ausmaß die Proteste annehmen würden. Der massive Widerstand zeigt Wirkung. Aus Brüssel hört man, dass einige Abgeordnete beeindruckt sind und sich noch nicht endgültig entschieden haben.

Der Sinneswandel kommt spät, womöglich zu spät, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzuerobern. Gerade junge Teilnehmer sind enttäuscht. "Ich finde Europa super, aber die EU macht Mist", sagt der 15-jährige Leon. Für ihn ist es die zweite Demonstration in zwei Tagen. Am Freitag war er bei "Fridays for Future". Er fürchtet, dass die Politik ihm erst sein digitales Zuhause wegnimmt und dann zusieht, wie der Planet zerstört wird, auf dem er lebt.

Am Dienstag wird das EU-Parlament endgültig abstimmen. Es gibt drei Möglichkeiten: Die Abgeordneten akzeptieren den aktuellen Vorschlag, streichen oder ändern einzelne Passagen, etwa Artikel 13, oder sie lehnen die Reform in Gänze ab. Option eins scheint nach diesem Samstag etwas unwahrscheinlicher geworden zu sein.

© SZ vom 25.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: