Strafvollzug:Wer unten ist, der fällt auch tief

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Warum das Verfassungsgericht über ein Stück Lochblech entscheiden musste. Und warum das bezeichnend ist für das Desinteresse an den Zuständen in den deutschen Gefängnissen.

Von Heribert Prantl

Jüngst hat sich das Bundesverfassungsgericht mit einem Stück Lochblech befassen müssen. Ein Lochblech ist eine Metallplatte, in die Löcher gebohrt oder gestanzt sind. Üblicherweise entscheidet das höchste Gericht ganz andere, viel wichtigere Sachen; es entscheidet über die Euro-Rettung oder darüber, ob Sicherheitsgesetze verfassungsgemäß sind. Der Lochblech-Fall war im Vergleich dazu mickrig; oft werden solche Mickrigkeiten, die im Wege der Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe vorgetragen werden, dort gar nicht zur Entscheidung angenommen.

Die Welt hinter Gittern ist aus der Welt verschwunden

In diesem Fall aber hat sich das Gericht elf Seiten lang dem Blech gewidmet. Es war nämlich vor dem Fenster einer Gefängniszelle angebracht. Der Gefangene klagte darüber, dass er kaum noch Luft bekommt: Er konnte zwar das Fenster öffnen, aber dann war da das Blech; und im Sommer kochte die Luft in der Zelle. Niemand hat sich dafür interessiert, auch die Gerichte haben sich nichts geschert; das höchste Gericht musste eingreifen. Es ist dies ein kleines Beispiel für das Desinteresse am Strafvollzug. Aus dem einst großen gesellschaftspolitischen Thema wurde ein Nichtthema. Seitdem vor zehn Jahren mit der Föderalismusreform das gesamte Gefängniswesen zur Ländersache wurde, ist es besonders krass; die Welt hinter Gittern ist aus der Welt verschwunden. Die Debatten über Reformen, über Haftbedingungen, über die Behandlung von Drogenkranken in Haft, über Gewalt hinter Gittern, über Lockerungen, Entlassungsvorbereitung, Resozialisierung: All diese Debatten sind zerkrümelt. Das ist bitter und gefährlich, denn es gibt neue Probleme: Ein Drittel der Gefangenen sind Ausländer.

65 000 Menschen sitzen in Deutschland in Strafhaft oder Sicherungsverwahrung - das ist die Einwohnerzahl von Städten wie Celle, Fulda, Kempten oder Weimar. Aber über die Zustände in der Haft ist wenig bekannt, noch weniger als früher; die Vollzugspraxis ist je nach Bundesland höchst unterschiedlich. Das liegt nicht daran, dass Lochbleche den Einblick verwehren. Das liegt an einer neuen Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Mentalität; und an einem pathologischen Strafbedürfnis, das daran glaubt, dass es gut sei, möglichst viele Gefangene im repressiven System des geschlossenen Vollzugs zu verwahren. Ein Denken, das über Resozialisierung wenig nachdenken will, verkennt aber, dass Strafhaft endet; dann sind die Ex-Gefangenen wieder Nachbarn.

Karlsruhe hat den Lochblech-Fall an die unteren Instanzen zurückverwiesen. Es wäre gut, wenn man auch die politschen Debatten zurückverweisen könnte: auf den Stand, den sie vor vierzig Jahren hatten. Damals wurden ins Gesetz, das damals ein Bundesgesetz war, folgende großartigen Sätze geschrieben: "Das Leben im Vollzug soll allgemeinen Lebensbedingungen so weit als möglich angepasst werden". Und: Der Gefangene soll fähig werden, "künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen". Hehre Ziele. Sie sind wichtig. Es geht um 65 000 Menschen in Haft. Und es geht um eine sichere Zukunft der Gesellschaft.

© SZ vom 04.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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