Strafvollzug:Morgen sind sie wieder unsere Nachbarn

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Haftstrafen können nicht ausgleichen, was an Sozialpolitik versäumt wurde. Die große Frage ist: Wie soll die Zukunft des Strafvollzugs aussehen?

Heribert Prantl

Und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht: Dieser Satz aus der "Dreigroschenoper" trifft es ziemlich gut. Der Strafvollzug in Deutschland geschieht in einer Blackbox. Im Lichte stehen die Insassen der Gefängnisse nur dann, wenn sie revoltierend aufs Dach klettern. Oder bei Brutalitäten hinter Gittern.

Ein Staatsbürger hinter Gittern (Archivbild) (Foto: Foto: Taffertshofer)

Natürlich gibt es dann öffentliche Erregung; aber die ist nicht Anlass für ein anhaltendes allgemeines Interesse. Strafvollzug kümmert kaum noch jemanden, Resozialisierung ist kein Thema mehr. Es gilt das Motto: aus den Augen, aus dem Sinn. Das ist kurzsichtig, weil bloßes Einsperren gar nichts löst: Gefangene bleiben nicht ewig Gefangene. Morgen sind sie wieder Nachbarn - nicht alle, nicht die Schwerkriminellen, aber die meisten.

Morgen sind sie wieder Nachbarn: Das Bewusstsein dafür ist verschwunden. Das war vor Jahrzehnten anders. Bundespräsident Gustav Heinemann sagte den wegweisenden Satz vom "Staatsbürger hinter Gittern". Das war der Geist, in dem das Strafvollzugsgesetz von 1976 geschrieben wurde. Es wollte das Leben hinter Gittern "den allgemeinen Lebensbedingungen so weit als möglich" anpassen. Der Gefangene solle "im Vollzug der Freiheitsstrafe fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen". Das waren die anspruchsvollsten Sätze, die je in einem deutschen Gesetz gestanden haben.

Ein gutes Gesetz wurde kaputtgespart

Sie waren teuer, so teuer, dass das Gesetz kaputtgespart wurde - auch deshalb, weil das Geld zu RAF-Zeiten für Sicherheitsmaßnahmen verbraucht wurde. Soll also statt der Tauglichkeit für ein Leben in Freiheit lieber die Vollzugstauglichkeit der Gefangenen gefördert werden? Ist es vielleicht sogar gut, die Gefangenen in der Haft noch ein paar besonderere Qualen erleiden zu lassen, als Buße? Wem hilft das, der Gesellschaft? Was ist das Wichtigste? Wie kann die reibungslose Eingliederungstauglichkeit von Menschen in Gefangenschaft gefördert werden?

Wie geht das Lernen im Gefängnis? Ausbildung, Arbeit, Behebung von Defiziten - Resozialisierung also! Das war ein großes Ziel, eine Vision; eine Utopie, sagten viele. Wie soll sie in einem Acht-Quadratmeter-Wohn-Ess-Schlaf-Klo Wirklichkeit werden? Und wie geht Resozialisierung, wenn einer nie sozialisiert war?

Es war und ist freilich besser, sich nach Utopien zu recken, als Sätze zu formulieren, wie sie einst das Berliner Kammergericht formulierte: Uneingeschränkt stünde Gefangenen nur noch ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu.

Das Strafvollzugsgesetz von 1976 war ein großer Werkzeugkasten, in dem die unterschiedlichsten Werkzeuge lagen, die der Resozialisierung und der Sicherheit dienten. Man muss in der Vergangenheit über dieses Gesetz reden, weil es nicht mehr existiert. Die Föderalismusreform hat die Zuständigkeit für die Gesetze auf die Länder übertragen.

Die Befürchtungen der Fachwelt waren gewaltig: Man warnte vor dem Wettlauf der Schäbigkeit. Der hat bisher nicht stattgefunden. Es ist aber auch keines der neuen Ländergesetze so, dass sich an der furchtbaren Rückfallstatistik (zumal im Jugendstrafvollzug) etwas grundlegend ändern wird: Drei von vier Jugendlichen werden binnen zwei Jahren rückfällig.

Bisher erleben nur dreißig Prozent der Jugendlichen in der Haft eine Behandlung, die das Wort Betreuung verdient. Wenn Nacherziehung hinter Gittern ausnahmsweise funktioniert, dann ist das ein Wunder, für das man dem knappen Gefängnispersonal, den Ausbildern und Sozialarbeitern dankbar sein muss. Sie sind Helden des Alltags.

Wahlkämpfer als Maulhelden

Wahlkämpfende Politiker wie zuletzt Roland Koch vor eineinhalb Jahren sind Maulhelden. Sie wissen eigentlich ganz gut, wie man guten Jugendstrafvollzug macht: Es gibt ihn, gerade auch in CDU-regierten Ländern; er ist wunderbar erfolgreich, aber er kostet. Weil diese Kosten gescheut werden, wird lieber der Wunderglaube an Härte und Wegsperren gefördert. Sicherlich gibt es Fälle, in denen Sicherungsverwahrung, also das ewige Einsperren, unumgänglich ist. Die legislative Explosion der Sicherungsverwahrung lässt sich mit diesen Fällen aber nicht erklären.

Neuerdings gibt es wieder vermehrt Stimmen, die mehr Schärfe im Knast fordern. All das "liberale Zeug" soll weg, überall sei zu viel Nachsicht, zu viel Milde. Man müsse nach Amerika schauen: Die packen zu, die greifen durch, die verhaften sogar einen, der an eine Mauer pinkelt. Die hängen einem Ladendieb ein Schild um den Hals und stellen ihn vor den Supermarkt: "Ich habe hier gestohlen." Die haben Umerziehungslager mit Militärdrill eingerichtet, sogenannte boot-camps. Gelegentlich bindet der Sheriff dem Gefangenen auch eine eiserne Kugel an den Fuß und lässt ihn dann Feldarbeiten verrichten - wie früher, zu Sklavenzeiten.

Was dort, in den USA, gut ist, heißt es, könne hierzulande nicht schaden. Die in den USA sind, so bewundert es der Kriminalisten-Stammtisch, nicht so zimperlich.

USA: Hysterie des Einsperrens

Wer eine solche Radikal-Politik fordert, der muss sich auch über die Konsequenzen im Klaren sein. In den USA ist die Inhaftierungsquote in den vergangenen dreißig Jahren irrwitzig gestiegen. Würde sich die Entwicklung so fortsetzen, säße im Jahre 2050 die Hälfte der US-Bürger hinter Gittern - und würde von der anderen Hälfte bewacht.

Die USA haben eine Politik betrieben, die die Folgen ihres eigenen Versagens kriminalisierte. Der Staat hat das soziale Netz zerschnitten beziehungswiese darauf verzichtet - und Gitter an dessen Stelle gesetzt. Die Hysterie des Einsperrens ist jedoch nicht mehr finanzierbar, sie frisst die Staatshaushalte auf, sie zwingt zur Privatisierung des Strafvollzugs.

Ein Rückgang der Kriminalität, der gern werbend für mehr Straf-und Vollzugshärte zitiert wird, erklärt sich schlicht: Solange einer hinter Gittern sitzt, kann er draußen keine Straftaten begehen. Der Verwahrvollzug schützt aber nur solange vor neuen Straftaten, wie der Straftäter in Haft ist. Anschließend ist es dann umso schlimmer. Deswegen hat das deutsche Recht vor über dreißig Jahren ja "Resozialisierung" zu seiner Aufgabe erklärt.

Die Stärke eines Strafvollzugs zeigt sich weniger in der Dicke der Anstaltsmauern denn in der Dicke der Haushaltspläne: Er zeigt sich in Zuwendung, Ausbildung, in der Zahl von Sozialtherapie-Plätzen. Ein starker Strafvollzug ist der, der dafür sorgt, dass Artikel 6 Grundgesetz, der Ehe und Familie unter den Schutz des Staates stellt, nicht vor Gefängnismauern endet.

Wer unten sitzt, der fällt auch tief: Die Familien werden mitbestraft, und das liegt nicht in der Natur der Sache, sondern an unzulänglichen Gefängnisbauten und fehlender Grundrechts-Sensibilität. Die Besuchszeiten sind knapp, für Nöte der Familien bleibt kein Raum: Begrüßung, Zärtlichkeiten - alles vollzieht sich in Gegenwart von Aufsichtsbeamten. Das ist Sippenhaft. Im sechzigsten Jahr des Grundgesetzes wäre es Zeit zu überlegen, wie Haft familienerträglich gestaltet werden kann.

Warum ist das kein Thema? Die soziale Bedürftigkeit der Gesellschaft insgesamt hat zugenommen. Es gibt neue Armut außerhalb der Gefängnisse - Hartz-IV-Gestrandete, Ausländer, Flüchtlinge. Der Keller der Gesellschaft hat etliche neue Stockwerke bekommen. Häftlinge sitzen jetzt noch weiter unten, sie werden noch weniger beachtet als früher. Es gibt also eine neue Konkurrenz des Elends.

Und trotzdem gilt der Satz: Morgen sind sie wieder Nachbarn! Diese Erkenntnis muss die Gefängnisse und die Politik für die Gefängnisse verändern.

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