Stolpersteine:Jede einzelne Familie soll bestimmen

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In München will der Stadtrat demnächst entscheiden, ob er diese Form des Gedenkens doch noch erlaubt. Dabei ist es gar nicht seine Aufgabe, das pauschal zu erlauben oder zu verbieten. Ein besserer Vorschlag liegt vor.

Von Martin Bernstein

Tausende Münchner Hauswände sollen künftig Gedenkplaketten erhalten und an Menschen erinnern, die dort einmal waren und nicht mehr sind. Weil sie als Juden oder Sinti dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer gefallen sind, als Zeugen Jehovas verschleppt, als Homosexuelle ermordet wurden. Siebzig Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft kehren die Opfer des Terrors so in den Alltag zurück; jeder Name ein schmerzhafter Hinweis auf die Wunde, die Deutschland, die München sich selbst gerissen hat - so einfach stellt sich die rot-schwarze Mehrheit im Münchner Rathaus die Lösung in der Stolperstein-Debatte vor.

Sie möchte noch vor der Sommerpause des Stadtrats einen Beschluss darüber fassen, wie individuelles Gedenken in der drittgrößten Stadt Deutschlands aussehen soll und darf. Nämlich prinzipiell so wie in den vergangenen elf Jahren: Die Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig, in den Gehsteig eingelassene Messingplatten mit den Namen und Lebensdaten der von den Nazis ermordeten Menschen, sollen in München verboten bleiben. Diese Regelung gilt seit 2004. Der damalige SPD-Oberbürgermeister Christian Ude ließ sofort nach dem ablehnenden Stadtratsvotum zwei Steine wieder ausgraben, die im Gedenken an ein ermordetes jüdisches Ehepaar bereits verlegt worden waren.

Der Münchner Stadtrat maßt sich eine pauschale Entscheidung an

Seither polarisiert der Streit um die Stolpersteine München wie keine andere Großstadt. Die Befürworter tun gerne so, als sei würdiges Gedenken an NS-Opfer ausschließlich mit Stolpersteinen möglich. Die Gegner sprechen verächtlich von "Gedenken im Straßenstaub". Der Riss geht durch die Stadt, durch den Stadtrat, durch die SPD und auch durch die jüdische Gemeinde. Deren Vorsitzende Charlotte Knobloch lehnt die Stolpersteine vehement ab. Für sie, die Ehrenbürgerin der Stadt, ist der Gedanke unerträglich, dass Neonazis ihre Springerstiefel an den Plaketten mit den Namen ermordeter Juden abwischen könnten. Andere jüdische Nachkommen von Opfern wünschen sich gerade, dass die Münchner in ihrem Alltag ins Stolpern kommen. Die Stadtratsmehrheit nimmt nun für sich in Anspruch, einen Kompromiss zwischen diesen Positionen gefunden zu haben: Gedenkplaketten an den Hauswänden statt im Trottoir, und, wo das nicht möglich sein sollte, Stelen vor den Häusern. Beides ausschließlich auf Wunsch und - nach Vorstellung der CSU - auf Rechnung der Angehörigen.

Den Münchnern wird damit weiterhin verwehrt sein, im Alltag über ihre eigene Geschichte zu stolpern. Stolpersteine werden verboten bleiben, Hausbesitzer (und eben nicht die Nachkommen der Opfer) werden das letzte Wort über Gedenkplaketten haben. Die Stelen wiederum wird es aus Kosten- wie aus Platzgründen gar nicht geben. Es ist paradox: Diejenigen, die sich auf Charlotte Knobloch berufen, verhindern damit auch ihr Herzensanliegen - das individuelle Gedenken an die Opfer mitten im Alltag.

Die mit viel ideologischem Überbau geführte Stolperstein-Debatte lässt sich auf die Frage reduzieren: Wie weit will und darf München gehen mit einer Gedenkform, die Knobloch als zutiefst verletzend empfindet? Dabei bleibt die andere Frage auf der Strecke: Wie weit muss die Stadt gehen, um ein Gedenken zu ermöglichen, das sich viele Nachkommen und Angehörige von NS-Opfern sehnlichst wünschen, erklärtermaßen auch in München? Eine mögliche Antwort liegt in einer Schublade des Münchner Kulturreferats. Die aus Spenden finanzierten Stolpersteine soll es demnach dort geben, wo Hinterbliebene und Nachkommen sie wollen - und da nicht, wo diese sie ablehnen. Und wo es weder die einen noch die anderen gibt, müssen Fachleute und Opferverbände entscheiden. Das klingt einfach. Und erfordert einfach Mut.

© SZ vom 23.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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