Stimmung in Israel:"Massaker an Kindern"

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Israel ist entsetzt über den jüngsten Selbstmordanschlag.

Thorsten Schmitz

Nach verheerenden Selbstmordanschlägen werden in Israel stets dieselben Fragen gestellt.

Wie konnte sich etwa der 29 Jahre alte Raed Abdul-Hamid Misk, verkleidet als ultraorthodoxer Jude, unbemerkt von mehr als hundert Passagieren bis in die Mitte eines voll besetzten Gelenk-Linienbusses durchdrängen - mit mehreren Kilogramm Sprengstoff und Metallteilen am Körper?

Weshalb war es dem Vorbeter einer Moschee und dem Lehrer an einer Oberschule überhaupt gelungen, aus der von israelischen Truppen kontrollierten palästinensischen Autonomiestadt Hebron im Westjordanland bis ins Herz von Jerusalem vorzudringen, an mehreren israelischen Kontrollposten vorbei?

Und wie kann sich ein zweifacher Familienvater, dessen Frau im achten Monat schwanger ist, in die Luft sprengen, inmitten von Kindern, die genauso alt sind wie seine eigenen?

So fassungslos wie nach dem Attentat in der Disko in Tel Aviv

Israel ist fassungslos. Genauso fassungslos wie bereits zweimal zuvor, bei den Selbstmordanschlägen am jüdischen Osterfest Pessach vor anderthalb Jahren, als ein palästinensischer Terrorist sich und 29 weitere Menschen in einem Festsaal in den Tod sprengte, und im Juni 2001, als ein Palästinenser vor dem Eingang einer Stranddiskothek in Tel Aviv den um seinen Bauch geschnürten Sprengstoff zündete und 23 junge Tel Aviver mit in den Tod riss.

Diesmal sind die Wunden besonders groß, denn unter den 20 Getöteten von Montagnacht befinden sich sechs Kinder und ein elf Monate alter Säugling, der gerade seine ersten Worte zu sprechen begonnen hatte.

Schmuel war das sechste Kind von Nava und Jaakov Zargari, die mit ihren vier anderen Kindern zum Beten an der Klagemauer in die Altstadt von Jerusalem gefahren waren. Ihr fünftes Kind, ein Sohn, hatte nicht zur Klagemauer fahren wollen - dafür nahm er als einziger der Familie am Dienstag an der Beerdigung seines jüngsten Bruders Schmuel teil.

Der Vater liegt im Koma und hängt an lebensrettenden Schläuchen, er weiß nichts vom Tod seines Babies. Mutter Nava erfuhr von ihren Brüdern am Krankenhausbett, dass Schmuel getötet worden war und brach innerlich zusammen. "Es war fürchterlich für sie. Sie trug das Baby auf ihren Armen, als es passierte. Sie sagte kein Wort, weinte Stunden, sie will nichts essen", berichtete Bruder Mordechai Naki im israelischen Fernsehen. Die anderen vier Kinder der Familie Zargari liegen in verschiedenen Jerusalemer Krankenhäusern.

40 Kinder verletzt

Insgesamt sind bei dem Anschlag 40 Kinder zum Teil so schwer verletzt worden, dass die Ärzte um deren Überleben bangen. Darunter der einen Monat alte Elchanan Cohen, dessen Lungengewebe zum Teil zerstört wurde. Sanitäter wurden zitiert, die zwar schon Dutzende von Anschlägen miterlebt haben, denen aber der Anblick der Körperteile von Kindern so sehr zugesetzt habe, dass sie psychologisch betreut werden mussten.

Die israelischen Medien berichten in sehr großer Aufmachung vom "Massaker an den Kindern", drucken Fotos von verbrannten Jugendlichen und Babies, die Augen oder Gliedmaßen verloren haben.

Die Identifizierung der 20 Toten von Jerusalem dauert noch immer an, so sehr sind ihre Körper verstümmelt. Die Pathologen benötigen DNS-Proben, bitten Angehörige um Zahn- oder Haarbürsten, um einwandfrei die Identität der Toten feststellen zu können.

Ein thailändischer Gastarbeiter ist unter den Opfern, sonst handelt es sich fast ausschließlich um ultra-orthodoxe Juden, die von der Klagemauer zurückgekehrt waren. Orthodoxe Familien sind generell kinderreich und verfügen über relativ geringe Einkommen, weshalb sie meist öffentliche Verkehrsmittel benutzen.

Der Anschlag fand zudem wenige Tage vor dem Beginn des wichtigsten Monats in der jüdischen Religion statt: Im September wird Rosch Ha'Schana gefeiert, das jüdische Neujahrsfest, kurz darauf der höchste jüdische Feiertag begangen, Jom Kippur. In dieser Zeit halten Religiöse Zwiesprache mit Gott und bitten um Vergebung für Sünden - am wichtigsten Ort für gläubige Juden, an der Klagemauer. Dass so viele Kinder am späten Abend noch unterwegs waren, hat einen weiteren Grund: Bis Anfang September sind noch Schulferien.

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