Es ist diese Leichtigkeit, die so irritiert. Als wollte sie eine Heizdecke im Versandhaus bestellen, schrieb Frieda F. aus Bergisch-Gladbach am 30. August 2008 auf ihrer mechanischen Schreibmaschine folgenden Brief: "Auch ich als 97-Jährige, alleinlebend in meiner Wohnung, möchte nicht tatenlos einem unaufhaltsamen Siechtum, das zum größten Teil schon eingesetzt hat, entgegensehen; wäre dankbar für ein Medikament, das mir einen schonenden Freitod beschert."
Sie könne zwar noch alleine für sich sorgen, aber "schon die Angst, in ein Pflegeheim eingewiesen zu werden, treibt mich in den Suizid". Sie schloss mit den Worten: "Bitte schreiben Sie mir, ob ich mit Ihrer Hilfe rechnen darf, welche Unkosten ich zu erstatten habe. Mit freundlichen Grüßen."
Roger Kusch konnte helfen. Frieda F., geboren am 16. Dezember 1910, starb am 28. November 2008 in einem Hotelzimmer in Mülheim an der Ruhr.
Die alte Dame aus Nordrhein-Westfalen hatte ursprünglich zu Hause sterben wollen, wie die anderen vier Menschen, die unter Anleitung des ehemaligen Hamburger Justizsenators Kusch seit Juni ihr Leben mittels eines Medikamenten-Cocktails beendet haben.
Am Tag vor ihrem Freitod-Termin ordnete die Staatsanwaltschaft jedoch eine Hausdurchsuchung bei Kusch an. Sechs Beamte beschlagnahmten in der Wohnung des Ex-Politikers im Hamburger Stadtteil St. Georg Unterlagen, darunter Daten, die auf Frieda F.s bevorstehenden Tod hinwiesen. "In ihrer Wohnung konnte es also nicht mehr gehen", sagt Kusch, denn dann hätte womöglich die Polizei während des Suizidversuchs an der Haustür geklingelt. Kusch sagt, er habe Frau F. vorgeschlagen, den Termin zu verschieben. Aber sie habe sich lieber fürs Hotel entschieden.
Danach nahm auch die Staatsanwaltschaft Duisburg Ermittlungen auf. Außerdem, so Kusch, hätten Polizisten Sterbewillige in ganz Deutschland aufgesucht, teilweise von Amtsärzten begleitet, um sie zu befragen. "So etwas hätte ich in diesem Land nicht für möglich gehalten", sagt er. Ihm selbst habe ein Beamter während der Hausdurchsuchung per Polizeiverfügung "Sterbehilfe verboten". Dagegen streitet er vor dem Verwaltungsgericht.
Kusch, 53, gehört am Ende eines für ihn wegweisenden Jahres zu den umstrittensten Personen im Land. Zunächst hatte im Februar eine krachende Niederlage seiner rechtspopulistischen Parteigründung "HeimatHamburg" bei den Bürgerschaftswahlen seine politische Karriere endgültig beendet. Das ehemalige CDU-Mitglied zog sich aus der Politik zurück und widmete sich seinem Verein "Dr. Roger Kusch Sterbehilfe e. V.".
Der Legalisierung von Sterbehilfe in Deutschland hatte er sich schon als Justizsenator angenommen - und sich in der Union sowie in der Hamburger Landesregierung damit vollkommen isoliert. Während der Verein allein der Öffentlichkeitsarbeit dienen soll, bietet Kusch persönlich parallel "Suizidbegleitung" an. Gegen ein Entgelt von 8000 Euro - es kann freiwillig mehr, bei Bedürftigkeit auch weniger sein - hilft er lebensmüden Menschen, sich vom Leben zum Tod zu befördern.
Seitdem sieht sich Kusch mit dem Vorwurf der kommerziellen Sterbehilfe konfrontiert. Der Vizepräsident der deutschen Ärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, nennt das Angebot "ausgesprochen verabscheuungswürdig". Der Publizist und Moralist Michel Friedman hält den Hamburger Sterbehelfer für einen "ehrgeizigen Scharlatan, der aus Angst Profit schlägt". Und für die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) ist ihr früherer politischer Verbündeter heute "ein Quacksalber des Todes, dem wir das Handwerk legen müssen". Der profilierte Jurist Dr. Roger Kusch, einst auch Jugend- und Strafrichter, geistert nun als "Dr. Tod" durch die Medien.
Gleichzeitig erfährt er großen Zuspruch bei Menschen, die nicht länger leben wollen. Mehr als 200 hätten sich an ihn gewandt. Anders als etwa in der Schweiz, wo Sterbehilfe durch Ärzte erlaubt ist, verbieten sich in Deutschland einerseits Ärzte selbst solche Dienstleistungen, indem sie Sterbehilfe für unvereinbar mit ihrer Ethik erklären, zum anderen auch das Gesetz. Auf "Tötung auf Verlangen" (Strafgesetzbuch, Paragraph 216) steht Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren.
"In Deutschland wird es auf Jahre keine parlamentarische Mehrheit geben, um diesen Paragraphen zu ändern", sagt Kusch, der deshalb auch gar nicht mehr versucht, das Thema mit Diplomatie oder Überzeugungsarbeit anzugehen. "In der Politik habe ich verschiedenste Formen des Scheiterns erlebt", sagt er. Nun schreitet er zur Tat. Menschen, die unheilbar erkrankt sind (aber nicht zwingend sterbenskrank), müssen Kusch unter anderem davon überzeugen, dass ihr Sterbewunsch "unter Berücksichtigung aller persönlichen Umstände plausibel" ist.
Danach begutachtet der Psychologe Johann Spittler angeblich jeden Sterbewilligen persönlich, um festzustellen, dass keine Depression oder Beeinflussung durch Dritte vorliegt. Aber letztlich, sagt Ex-Richter Kusch, sei es mit diesem Gutachten wie mit Expertisen vor Gericht: "Am Ende entscheidet der Richter." In diesem Fall, nach Überwindung nur dieser Hürden, entscheidet er über Leben oder Sterben.
Kusch behauptet, er lehne 90 bis 95 Prozent der Anträge auf Suizidbegleitung ab. Bei positivem Bescheid kommt es nach mehreren persönlichen Treffen zur finalen Begegnung. Obwohl Kusch keine Details nennt, dürften sich die Todeskandidaten die Medikamente bis dahin selbst besorgt haben; was sie ihren Ärzten sagen müssen, um die Rezepte zu erhalten, ist Teil des Berufsgeheimnisses von Kusch.
Der dokumentiert alles auf Video und bleibt im Zimmer, während der Sterbende die Medikamente in bestimmter Reihenfolge einnimmt. Kurz bevor das Bewusstsein schwindet, verlässt der bezahlte Sterbehelfer den Raum, um sich nicht des Totschlags durch unterlassene Hilfeleistung schuldig zu machen. Während der Tod eintritt, läuft die Kamera. Kusch kommt später zurück.
Die Suizidbegleitung versteht Kusch als "absolute Provokation". "Das Sterbehilfeangebot eines examinierten Juristen kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein", sagt er, "das gehört in die Hände von Medizinern." Die jedoch wirkten bisher nur im Verborgenen, "heimliches Tun ist aber gesellschaftlich irrelevant". Kusch will die Öffentlichkeit weiter provozieren, "um mich irgendwann selbst überflüssig zu machen". Er werde, falls nötig, schon bald vollständige Sterbevideos öffentlich zeigen; Interviews stellt er bereits bei YouTube zur Ansicht.
So könnte etwa bald der Tod von Bettina S. im Fernsehen zu sehen sein. Die 79-jährige Würzburgerin war Kuschs erste Kundin. In ihrem Abschiedsbrief schrieb sie: "Sie konnten mit mir lachen, wenn ich mich über die moralisierenden Kleingeister lustig machte. Sollte die Art meines Todes Ihnen bei Ihrem Kampf helfen, wäre das Ziel meines Lebens, die Freiheit, in Würde zu sterben, erreicht."