Staatskrise in der Türkei:Ein Land auf Bewährung

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Die Türkei ist knapp an einer Staatskrise vorbeigeschrammt. Jetzt muss das Land über eine neue Verfassung nachdenken, die gerecht ist.

Kai Strittmatter

Ein Gefühl der Erleichterung erfasst die Türkei. Die Regierungspartei AKP wird nicht verboten, das Land stürzt nicht ins Chaos, der EU-Beitrittsprozess wird nicht erdrosselt, die Wirtschaft nicht über die Klippe gestoßen. Allerdings ist das Land dem Desaster nur knapp entronnen. Eine einzige Richterstimme mehr für die andere Seite, und die Türkei wäre getaumelt. Man sollte deshalb den Jubel kurzhalten. Das Land ist einer Katastrophe entkommen. Die Krise aber ist nicht vorüber. Und darin könnte auch eine Chance liegen.

Demonstranten schwenken die türkische Landesflagge während einem Protestmarsch gegen die Politik der Regierung im Juli 2008. (Foto: Foto: afp)

Premier Tayyip Erdogan meinte nach dem Urteil, die Türkei sei davongekommen, "ohne einen Preis zahlen zu müssen". Das stimmt leider nicht. Die vergangenen Monate haben die Politik gelähmt und ihre Institutionen beschädigt. Allein die Tatsache, dass der Verbotsprozess überhaupt eröffnet wurde, hat dem Land geschadet. Die Anklage war haltlos. Das war kein juristischer, das war ein politischer Prozess. Das Verfassungsgericht hat sich selbst diskreditiert, indem es die Klage behandelte. Es nahm Parlament und Regierung in Zwangshaft und lähmte die Institutionen des Landes.

Im Juni annullierte das Gericht eine vom Parlament beschlossene Verfassungsänderung, die Studentinnen das Tragen von Kopftüchern auf dem Campus erlaubt hätte. Damit überschritten die Richter ihre in der Verfassung festgelegten Kompetenzen und machten klar, dass sie der AKP auch in Zukunft keine wichtigen Reformen erlauben wollen.

Die türkische Verfassung verhindert Bürgerrechte

Die Türkei ist ein zerrissenes Land. Will sie auf dem Weg zu Stabilität und Demokratie weiterkommen, so muss der Staat jetzt umgebaut werden. Das Parteiengesetz etwa ist ein Übel im politischen System. Es gibt alle Macht dem Parteichef und erniedrigt die Parteien zu Führergefolgsvereinen.

Schlimmer noch als das Parteiengesetz ist aber die Verfassung selbst. Sie muss erneuert werden. Die gültige Verfassung wurde noch von den Putschgenerälen von 1980 diktiert. Sie verhindert Bürgerrechte, sie schränkt die Meinungsfreiheit ein, sie macht das Parteienverbot zu leicht. Es läuft in diesen Tagen ja noch ein zweiter Verbotsprozess, der gegen die Kurdenpartei DTP. Und so wie ein Verbot der AKP die Konservativen und die gläubigen Muslime ein Stück von der Demokratie entfremdet hätte, so würde ein DTP-Verbot die gleiche Reaktion bei den Kurden auslösen.

Die AKP hat nach ihren spektakulären Wahlerfolgen von 2002 bis 2005 viele Fehler gemacht. Sie hat - konservative Partei, die sie ist - die Liberalen im Land verprellt, sie hat nationalistischen Reflexen nachgegeben, sie hat aber vor allem ihre Reformversprechen vergessen. Vielleicht, weil sie bequem wurde, vielleicht, weil sie nervös auf ihre so nationalistischen wie militaristischen Gegner starrte und sich keine Blöße geben wollte.

Wiedergeburt für AKP und das ganze Land

Das Verfassungsgericht hat nun die Hinrichtung der Partei abgesagt, den Gnadenspruch aber mit einer "ernsten Warnung" verbunden. Diese Warnung hängt nun erst einmal wie ein Damoklesschwert über der AKP. Gut wäre, wenn sie daraus die Lehre zöge und der Angst vor ihrer angeblich islamischen Agenda offensiv entgegenträte. Leider ist jedoch zu befürchten, dass die Richter ihren Spruch anders interpretieren: Die AKP soll das traditionell autokratische Gerüst der Republik nicht antasten. Oder gewendet: Die Partei soll sich mit dem alten System arrangieren - wie so viele andere mit Reformeifer angetretenen Parteien vor ihr. Ließe sich die AKP auf den Pakt ein, es wäre nicht nur das Ende der demokratischen Reformen im Land, es wäre auch ihr eigenes Ende.

Für eine neue, freiheitliche Verfassung könnte sich die AKP ein Mandat in Neuwahlen holen. So könnte sie die Mehrheit der Gesellschaft mit einbeziehen in das große Projekt und müsste es nicht als Privatsache behandeln. Dann könnte nicht nur die AKP ihre Wiedergeburt feiern, sondern auch die Türkei.

Die AKP hat nach ihren spektakulären Wahlerfolgen von 2002 bis 2005 viele Fehler gemacht. Sie hat - konservative Partei, die sie ist - die Liberalen im Land verprellt, sie hat nationalistischen Reflexen nachgegeben, sie hat aber vor allem ihre Reformversprechen vergessen. Vielleicht, weil sie bequem wurde, vielleicht, weil sie nervös auf ihre so nationalistischen wie militaristischen Gegner starrte und sich keine Blöße geben wollte.

Wiedergeburt für AKP und das ganze Land

Das Verfassungsgericht hat nun die Hinrichtung der Partei abgesagt, den Gnadenspruch aber mit einer "ernsten Warnung" verbunden. Diese Warnung hängt nun erst einmal wie ein Damoklesschwert über der AKP. Gut wäre, wenn sie daraus die Lehre zöge und der Angst vor ihrer angeblich islamischen Agenda offensiv entgegenträte. Leider ist jedoch zu befürchten, dass die Richter ihren Spruch anders interpretieren: Die AKP soll das traditionell autokratische Gerüst der Republik nicht antasten. Oder gewendet: Die Partei soll sich mit dem alten System arrangieren - wie so viele andere mit Reformeifer angetretenen Parteien vor ihr. Ließe sich die AKP auf den Pakt ein, es wäre nicht nur das Ende der demokratischen Reformen im Land, es wäre auch ihr eigenes Ende.

Für eine neue, freiheitliche Verfassung könnte sich die AKP ein Mandat in Neuwahlen holen. So könnte sie die Mehrheit der Gesellschaft mit einbeziehen in das große Projekt und müsste es nicht als Privatsache behandeln. Dann könnte nicht nur die AKP ihre Wiedergeburt feiern, sondern auch die Türkei.

© SZ vom 1.08.2008/pir - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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