Sozialdemokraten und Linkspartei:Die SPD und das Gewissen

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Vier Aufrechte oder vier Verräter? Seit das Entstehen der Regierung Ypsilanti verhindert wurde, sind in Deutschland wieder die Gewissensprüfer unterwegs.

Kurt Kister

In der alten Bundesrepublik gab es eine Zeit, da musste sich jeder, der den Wehrdienst verweigern wollte, einer Gewissensprüfung unterziehen. Viele der Erfolgreichen unter den Geprüften waren überzeugte Kriegsdienstgegner. Andere hatten einfach keinen Bock auf den Barras.

Am Montag im Blitzlichtgewitter, seither im Kreuzfeuer der Kritik: die vier SPD-Abweichler aus Hessen. (Foto: Foto: AP)

Wenn sie die einschlägigen Bücher oder Broschüren lasen, in denen der Umgang mit den Fangfragen der Prüfer erläutert wurde, kamen sie auch so durch. Nachdem diese absurde Gewissensprüfung endlich abgeschafft wurde, weinten ihr nicht einmal die reaktionärsten Majore a. D. viele Tränen nach.

Gewissen lässt sich nicht messen, wiegen oder sezieren. Man kann aus früheren Handlungen, auch aus Reden auf das Gewissen schließen. Das Gewissen definiert so sehr das Individuum, dass ihm einer der wichtigsten Grundgesetz-Artikel gewidmet ist. Der Artikel 4 garantiert Gewissensfreiheit und übrigens auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Im Artikel 38 ist ebenfalls vom Gewissen die Rede. Da heißt es, dass Abgeordnete "nur ihrem Gewissen unterworfen" sind.

Diese Freiheit ist den Mehrheiten in Parteien und Parlamenten oft ein Dorn im Auge. Was haben Gerhard Schröder und Franz Müntefering während der rot-grünen Jahre gegen die linken Dissidenten in der SPD-Fraktion gewettert, wenn sich diese gegen die Mehrheiten von Parteitagen und Fraktion stellten. Unter diesen Dissidenten waren etliche jener Gewissensfesten, die heute den hessischen Dissidenten jede Gewissensbindung absprechen. Das ist so ungewöhnlich nicht, denn gerade unter Linken gibt es viele, die das Gewissen als solches vor allem im eigenen Lager beheimatet glauben.

Am simpelsten, von Bestechung zu schwafeln und bloggen

Seitdem, je nach Sichtweise, die vier Aufrechten oder die vier Verräter von Wiesbaden das Entstehen der Regierung Ypsilanti verhindert haben, sind in Deutschland wieder die Gewissensprüfer unterwegs. Bei vielen von ihnen ist es so, wie früher bei den Majoren a. D.: Sie glauben, das zu prüfende Ergebnis im Voraus zu kennen. Am simpelsten machen es sich die, die einfach so von Bestechung schwafeln und bloggen, nach dem Motto: Wer anderer Meinung ist als ich, muss gekauft sein - sei es von der Flughafenlobby oder der Berliner SPD-Spitze.

Jenseits der Verschwörungstheorien gibt es viele Erklärungsversuche, die mehr mit Psychologie als mit Politik zu tun haben. Vor allem das Verhalten der drei Spät-Verweigerer, so heißt es, gehöre eher in den Bereich der Psychiatrie als des Landtages. Gewiss, persönliche Verletzungen, exzessive Besserwisserei, Rachegelüste spielen auch in der Politik oft eine Rolle - man denke nur an Edmund Stoiber oder Oskar Lafontaine, auch an Andrea Ypsilanti und Jürgen Walter. Trotzdem aber ist Politik nicht in erster Linie eine Psycho-Soap, auch wenn es Journalisten zu häufig so darstellen.

Den Vorgängen in Hessen lag von Anfang an, schon als Ypsilanti noch jede Kooperation mit der Linkspartei ablehnte, ein Problem zugrunde, das für Sozialdemokraten eine Gewissensfrage ist: Wie halten wir es mit der Linkspartei?

Ypsilanti hat ihr "Nein" vor der Wahl nicht aus Daffke permanent wiederholt, sondern weil auch ihr bewusst war, dass sich zumindest der westdeutsche Teil der Linkspartei explizit und vor allem gegen die SPD aufgestellt hat. Die Linkspartei ist zwar nicht der gewichtigste, aber doch derzeit schärfste Gegner der SPD - jedenfalls jener SPD, für die Müntefering und Steinmeier stehen. Dies ist auch jene SPD, die als Einzige Chancen hat, über 30 Prozent im Bund zu kommen.

Mehrere Parteien in einer

Wichtig bleibt, dass der ostdeutsche Teil der Linkspartei der SED entsprossen ist. In Westdeutschland und durchaus auch bei vielen Ostdeutschen erzeugt dies ein so großes Missbehagen, dass viele keine Partei wählen möchten, die mit der Linkspartei kooperiert oder koaliert - also keine Ypsilanti-SPD. Die so gern gebrauchte Analogie zur Geschichte der Grünen - eine kleine Partei, zunächst von allen gemobbt, dann aber gereift - ist in einem entscheidenden Teil falsch: Die Grünen sind aus einer breiten sozialen Bewegung hervorgegangen und anders als die PDS, später Linkspartei, eben nicht aus einer autoritären Einheitspartei, die ihr Staatsvolk einmauern ließ.

Wie auch die Linkspartei besteht die SPD aus mehreren Parteien in einer. Der Umgang mit der Linkspartei ist ein wichtiges Kriterium dafür, wo man in der SPD steht. Es ist für viele eine Gewissensfrage, so wie es die Hessen-Dissidenten für sich in Anspruch nehmen. Die SPD-Linke ist zur Zusammenarbeit mit der Linkspartei bereit, auch weil sie sieht, dass die SPD in Zukunft so schwach sein wird, dass sie oft mehr als einen Partner zum Regieren brauchen wird.

Forderung nach "klarer Linie" ist unrealistisch

Ihre Gegenspieler, die Seeheimer und Netzwerker, lehnen Kooperationen mit der Linkspartei ab, allemal im Bund, machen aber im Osten Ausnahmen. Zwischen diesen Flügeln gibt es Sozialdemokraten, die nicht mit der Linken wollen, aber sie, wenn es nicht anders geht, akzeptieren - auch wenn sie sich dabei die Nase zuhalten.

Die Forderung, die SPD müsse eine "klare Linie" gegenüber der Linkspartei finden, ist wohlfeil, aber unrealistisch. Andrea Ypsilanti hat erst die eine klare Linie verfolgt, dann die andere. Sie ist beide Male gescheitert. Ihr ist es im Kleinen so ergangen, wie es der SPD im Großen und auf Dauer zu ergehen droht.

© SZ vom 05.11.2008/ihe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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