Sozialbericht:"Lawine der Altersarmut"

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Vor allem um die Rentner müsse man sich Sorgen machen, heißt es beim Paritätischen Wohlfahrtsverband. Doch Kritiker fragen auch: Wie tauglich ist die Definition von Armut?

Von Thomas Öchsner, Berlin

Wer im Ruhrgebiet lebt, ist besonders stark von Armut bedroht. Das geht aus dem neuen Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands vor. Demnach ist jeder fünfte Einwohner des größten Ballungsraums in Deutschland durch Armut gefährdet. Die sogenannte Armutsquote ist dort von 2005 bis 2014 zehnmal so stark angewachsen wie beim Rest der Bevölkerung. In Nordrhein-Westfalen stieg dieser Wert zuletzt deutlich auf 17,5 Prozent. Bundesweit veränderte er sich mit 15,4 Prozent oder 12,5 Millionen Menschen jedoch kaum. In neun Bundesländern ging die Armutsquote zurück, besonders stark in Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und erstmals seit 2006 auch in Berlin.

Der Wohlfahrtsverband orientiert sich bei seinem Armutsatlas an einer EU-Konvention. Diese besagt, dass Menschen von Armut bedroht sind, wenn sie weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. In Deutschland liegt diese Schwelle bei 917 Euro für einen Single ohne Kinder, bei einer Alleinerziehenden mit einem Kind unter sechs Jahren beträgt sie 1192 Euro. Bei einem Paar mit zwei älteren Kindern sind es 2109 Euro.

Im vergangenen Jahr gab es viel Kritik an den Berechnungen

Ob diese Menschen dann wirklich als arm zu bezeichnen sind, ist umstritten. Caritas-Generalsekretär Georg Cremer warnte kürzlich in einem SZ-Interview davor, diese relative Armut mit absoluter Armut gleichzusetzen und so unnötig Abstiegsängste in der Mitte der Gesellschaft zu befeuern. In Deutschland würden nicht Millionen von Menschen im Müll nach Essen suchen oder auf der Straße schlafen. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätische Wohlfahrtsverbands sagt nun: "Man ist in diesem reichen Deutschland nicht erst dann arm, wenn man unter Brücken schlafen oder Pfandflaschen sammeln muss. Armut beginnt nicht erst dann, wenn Menschen verelenden." Armut sei bereits dann gegeben, wenn Menschen aufgrund ihres geringen Einkommens "einfach nicht mehr mithalten können an ganz normalen Lebensweisen dieser Gesellschaft". Besonders gefährdet seien kinderreiche Familien, Arbeitslose, Alleinerziehende und zunehmend auch Rentner. Bei letzteren lag die Armutsquote 2014 mit 15,6 Prozent oder 3,4 Millionen erstmals über dem Durchschnitt. Nach den Berechnungen des Verbands hat sich die Zahl der Rentner unterhalb der Armutsschwelle seit 2005 um 46 Prozent erhöht. "Was wir heute in der Statistik sehen, sind die Vorboten einer Lawine der Altersarmut", sagt Schneider. Basis der Berechnungen ist allerdings nur das Einkommen der Rentner, nicht ihr Besitz wie etwa Immobilien. Die starke Zunahme dürfte auch demografisch bedingt sein, weil die Bevölkerung und damit auch die potenziell Armen altern. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts beziehen derzeit knapp eine Million Rentner die staatliche Grundsicherung im Alter, die Hälfte etwa wegen einer dauerhaften Erwerbsminderung. Wolfram Friedersdorff, Präsident des Bundesverbands Volkssolidarität, sprach von einer "hohen Dunkelziffer der verdeckten Armut" bei Rentnern.

Der Paritätische gibt den Armutsbericht jedes Jahr heraus. Nachdem 2015 die Analyse scharf kritisiert worden war, beteiligten sich diesmal weitere Verbände wie das Deutsche Kinderhilfswerk, oder Pro Asyl daran, um den Paritätischen Wohlfahrtsverband zu unterstützen.

© SZ vom 24.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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