Sexueller Kindesmissbrauch:Tatort Familie

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Gefahr im eigenen Kinderzimmer: Missbrauch in der Familie bringt die Betroffenen in eine schier ausweglose Situation. (Foto: Uwe Zucchi/dpa)

Vater, Onkel, Bruder, Mutter: Nicht in Kirchen oder Sportvereinen, sondern im eigenen Zuhause sind Kinder am häufigsten mit sexualisierter Gewalt konfrontiert. Darauf weist die Unabhängige Aufarbeitungskommission hin.

Von Edeltraud Rattenhuber, München

Die Schulen dicht, alle zu Hause, und keine Möglichkeit, mal woanders Dampf abzulassen: Häusliche Gewalt hat im Corona-Lockdown zugenommen, das berichten Frauen- und Kinderschutzorganisationen seit Monaten. Dass unter solche Gewalt nicht nur Schläge und Tritte oder psychische Gemeinheiten fallen, sondern auch immer wieder sexualisierte Gewalt, ist zu befürchten.

Jedenfalls warnt die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) davor, Kirchen oder Sportvereine als Haupttatorte sexuellen Kindesmissbrauchs zu sehen. Es seien die Familien, wo die meisten sexuellen Übergriffe auf Kinder passierten, betont die Kommission in einer Pressemitteilung zu ihrem fünfjährigen Bestehen. Sie will damit die Familie stärker in den Fokus gesellschaftlicher Aufarbeitung rücken.

"Meist bleiben betroffene Menschen allein mit den familiären Gewalterfahrungen und den Folgen, weil sich niemand verantwortlich fühlt", beklagt die Kommissionsvorsitzende Sabine Andresen. Denn allzu oft werde der Privatraum Familie höher gewertet als der Schutz betroffener Kinder. In den vergangenen Jahren meldeten sich mehr als 2500 Betroffene bei der UBSKM, 1000 von ihnen, um über sexuellen Kindesmissbrauch in der Familie zu sprechen.

"Bei Betroffenen aus dem familiären Bereich besteht ein großes Bedürfnis, der Kommission mitzuteilen, was ihnen in Kindheit und Jugend widerfahren ist", sagt Andresen. Viele verbänden damit auch das gesellschaftliche Anliegen, dass die Familie als Tatort sexualisierter Gewalt untersucht wird.

Mütter als Mitwissende oder Täterinnen

Die Menschen, die sich meldeten, sind meist in den Mittvierzigern bis Mittsechzigern und kämen aus allen sozialen Schichten, so die Kommission. Sie berichteten von Vätern, Großvätern, neuen Partnern, aber auch von Müttern oder Geschwistern, von denen die Gewalt ausgegangen sei. Viele Betroffene nennen weitere Gewaltformen wie Missachtung, Vernachlässigung, Demütigung und Desinteresse. Seit den ersten Auswertungen der vertraulichen Anhörungen und schriftlichen Berichte beschäftigt sich die Kommission auch mit der Rolle der Mütter als Mitwissende, aber auch als Täterinnen.

In diesem Sommer soll eine Fallstudie über Formen und Umstände sexueller Gewalt in Familien sowie Hilfen für die Opfer erscheinen. Gelungene Hilfe für Betroffene hänge davon ab, ob sexualisierte Gewalt - und andere Gewaltformen - in Familien benannt werden könnten, verstanden und geglaubt würden, so Andresen.

Angst, die Familie zu zerstören

Die Wissenschaftlerin, die an der Universität Frankfurt als Professorin lehrt, betont, dass für die Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie weitere Forschungen und Anstrengungen der Gesellschaft nötig seien . Insbesondere müsse die Rolle von Jugendämtern und Familiengerichten aufgearbeitet werden. Dazu werde die Kommission in diesem Jahr eine Fallstudie in Auftrag geben. Nötig sei es außerdem, Hilfs- und Beratungsangebote für Betroffene und Familienangehörige flächendeckend auszubauen. Denn Betroffene bringt Missbrauch in der Familie in eine schier ausweglose Situation: Gerade dort, wo sie besonderen Schutz, Fürsorge und Liebe erleben sollten und ihnen auch beispielsweise bei Missbrauch in Sportvereinen oder anderen Institutionen Schutz gewährt würde, sind sie bei sexualisierter Gewalt von Angehörigen völlig ausgeliefert. Nicht selten haben sie Angst, die Familie mit ihrem Bekenntnis zu zerstören. Sie brauchen Hilfe von außen.

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