Schweiz:Kompromisslos

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Der schweizerische FDP-Ständerat Andrea Caroni kritisiert die sogenannte Durchsetzungsinitiative. (Foto: imago)

Die SVP will sogar im Land geborene Ausländer schon bei Bagatelldelikten abschieben.

Von Charlotte Theile, Zürich

Wenn Politiker über Straftäter reden, klingt das meist scharf und entschlossen. Ein rechtsbürgerlicher Politiker, der sich vor eine Kamera stellt und mit einem ganz leichten Schmunzeln folgendes sagt, hat daher Seltenheitswert: Wenn einer "einmal 50 in der 30er-Zone fährt und geblitzt wird und dann innerhalb der nächsten zehn Jahre jemandem einen Joint verkauft und erwischt wird". Man wünscht sich fast, der Unbekannte aus dem Beispiel wäre nicht erwischt worden. Andrea Caroni, 35, Rechtsanwalt und FDP-Ständerat für Appenzell Ausserrhoden, hat dieses Beispiel mit Bedacht gewählt. Es soll illustrieren, dass es in der Schweiz bald jeden treffen könnte. Also: jeden Ausländer. Wenn die Schweizer am 28. Februar für die "Durchsetzungsinitiative" stimmen, werden Ausländer künftig wegen kleinerer Delikte automatisch abgeschoben. Eine Härtefallklausel soll es nicht geben.

Mit dieser Initiative doppelt die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) noch einmal nach: 2010 konnte sich die Partei an der Urne mit der sogenannten Ausschaffungsinitiative durchsetzen. Sie besagt, dass Ausländer, die wegen eines schweren Gewaltdelikts (Mord, Vergewaltigung, Raub, Menschenhandel) verurteilt wurden oder Sozialhilfemissbrauch betrieben haben, ihre Aufenthaltsansprüche verlieren. Das Schweizer Parlament hat die Initiative in Gesetzesform gegossen und mit einer Härtefallklausel versehen. Richter sollen in Einzelfällen von der Abschiebung absehen können, etwa bei Menschen, die in der Schweiz geboren sind und das Land, in das sie abgeschoben werden würden, kaum kennen. Für die SVP wird damit der Sinn der Initiative, die kompromisslose Abschiebung krimineller Ausländer, konterkariert. Sie sieht in der Klausel eine zutiefst undemokratische Aushöhlung des "Volkswillens".

"Nicht mit dem schweizerischen Konzept der Demokratie vereinbar", sagt ein Bundesrichter

Andere sehen die Demokratie vor allem durch die SVP gefährdet. Thomas Stadelmann, Bundesrichter am Schweizer Bundesgericht, warnte am Wochenende eindringlich vor der Annahme der Durchsetzungsinitiative. "Ein - selbst mehrheitlich gefasster - Entscheid, der Minderheits- oder Individualrechte missachtet oder gar beseitigt, ist unzulässig und nicht mit dem bisher geltenden Konzept der schweizerischen Demokratie vereinbar", schrieb Stadelmann in der Schweiz am Sonntag. Wenn nicht mehr abgewägt werden dürfe, ob andere Menschenrechte, etwa das Recht auf Familie oder der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, eine Rolle spielen, würden die fundamentalen Rechtsgrundsätze des Landes mit Füßen getreten, argumentiert Stadelmann - und wagt einen heiklen Vergleich: Wenn es so weitergehe, könnte man in der Schweiz auch bald über Gesetze abstimmen lassen, die Deutschland in den 1930er-Jahren erlassen hat, "als ganzen Religionsgruppen bürgerliche Rechte aberkannt wurden."

Dass die Durchsetzungsinitiative zu Komplikationen mit der Europäischen Union führen könnte, ist da fast Nebensache. "Gemäß unseren Verträgen mit der EU dürften wir einen Deutschen nur nach Deutschland ausschaffen, wenn er eine gewisse konkrete Gefahr für die Sicherheit der Schweiz darstellt", sagt FDP-Ständerat Andrea Caroni. "Wie man das bei einem 18-Jährigen, der in einen Wohnwagen eingebrochen ist und DVDs gestohlen hat, begründen soll, ist schwer vorstellbar." Schon die 2010 angenommene Ausschaffungsinitiative birgt Konfliktpotenzial: "Weil es um das abstrakte Delikt und nicht um die konkrete Schwere geht, kann es passieren, dass jemand wegen eines einfachen Einbruchdiebstahls des Landes verwiesen werden muss." Die neue Initiative verschärft die Lage: Wer vorbestraft ist, und sei es wegen einer Geschwindigkeitsübertretung im Straßenverkehr, soll innerhalb der nächsten zehn Jahre wegen kleinster Vergehen ausgewiesen werden können: Hausfriedensbruch, falsche Anschuldigung, Diebstahl. Delikte, bei denen Schweizer mit einer Geldstrafe davonkommen.

Auch in der SVP gibt es Uneinigkeit über die Initiative. Hans-Ueli Vogt, Jura-Professor der Uni Zürich und aufstrebender SVP-Politiker, sagte, er glaube, dass für "Secondos", also diejenigen, die in der Schweiz geboren wurden, Ausnahmen gelten müssten: "Sie gehören zu unserer Rechts- und Sozialgemeinschaft." Kurz darauf pfiff ihn die Parteileitung zurück; auch Secondos müssten abgeschoben werden.

Nach den Vorfällen am Kölner Hauptbahnhof dürfte die Initiative Auftrieb bekommen. "Viele hören nur ,kriminelle Ausländer' und denken, da müsse endlich etwas geschehen", glaubt Caroni. "Unsere Aufgabe ist es, aufzuzeigen, dass die neue Initiative zu weit geht." Bis auf die SVP sind alle Parteien gegen die Initiative. Umfragen zufolge will eine Mehrheit der Schweizer mit Ja stimmen.

© SZ vom 14.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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