Flüchtlinge:Notruf bei Mama

Lesezeit: 4 min

-

Es ist überstanden: Geflohene aus dem Polizeistaat Eritrea kommen mit einem überfüllten Holzboot an der sizilianischen Mittelmeerküste an.

(Foto: Jason Florio/AFP)

Wenn eritreische Flüchtlinge auf dem Mittelmeer in Gefahr geraten, wählen viele eine Handynummer in Schweden: die der Stockholmerin Meron Estefanos.

Von Silke Bigalke, Stockholm

Meron Estefanos wohnt in einem Stockholmer Vorort, ein großer Wohnblock, dritter Stock. Sie öffnet die Tür mit dem Handy am Ohr, und winkt durch den Flur ins Wohnzimmer. "Sorry, ich muss da zurückrufen." Man hört es tuten, dann Stimmen. Estefanos setzt sich auf die Sofakante, greift sich einen Schmierzettel. Auf Tigrinya, der Sprache Eritreas, ruft sie einzelne Worte ins Telefon, laut und bestimmt. Sie notiert : 300 - 80 woman - 15 pregnant - 16 children - wooden - motor stopped - 2 days. Ans Ende der Liste schreibt sie zwei siebenstellige Zahlen, es sind Koordinaten.

Das Gespräch endet so abrupt, wie es begonnen hat. Estefanos schaut nicht von ihrem Zettel auf, als sie die nächste Nummer eintippt. Dieses Mal spricht sie Englisch: "Hi, my name is Meron Estefanos, I live in Sweden . . ."

Flüchtlinge: Meron Estefanos

Meron Estefanos

(Foto: privat)

Sie weiß nicht, wie oft sie schon von Flüchtlingsbooten aus angerufen wurde. Allein in dieser Woche ist es das dritte Mal. Meron Estefanos lebt in Schweden, seitdem sie 14 ist, geflohen aus Eritrea, ihre beiden Söhne sind seither in Schweden zur Welt gekommen, das ist heute ihr Zuhause. Es sind Menschen aus der alten Heimat, die nun anrufen, in der Sprache der Eltern, und um Hilfe bitten. Meist gehen sie im libyschen Tripoli an Bord, immer hat irgendjemand Estefanos' Handynummer dabei. Wenn sie in Stockholm die 0088-Nummer eines Satellitentelefons auf ihrem Display sieht, weiß die 40-Jährige, dass sie schnell zurückrufen muss.

Estefanos ist zu einer Notrufzentrale für ein ganzes Land geworden

Estefanos ist Journalistin und Menschenrechtsaktivistin. Von Stockholm aus moderiert sie eine wöchentliche Sendung bei Radio Erena, einem Sender, der von Paris aus sendet und in Eritrea gehört wird. Ihre Handynummer gibt sie an ihre Hörer weiter. Und so ist sie zu einer Art Notrufzentrale für ein ganzes Land geworden.

Jetzt spricht sie mit der italienischen Marine, liest ihre Notizen vor: 300 Eritreer sind vor zweieinhalb Tagen in einem Holzboot aufgebrochen. Der Motor hat nach sieben Stunden den Geist aufgegeben, seither treiben sie. Estefanos diskutiert mit dem Mann am anderen Ende. Er sei sehr schroff gewesen, sagt sie hinterher. Die Koordinaten lägen in libyschen Gewässern, da könne er nichts machen. Warum sie überhaupt anrufe. Der Bleistift in ihrer Hand zittert. "So haben sie noch nie reagiert, das ist doch eine Notfallnummer", sagt sie. "Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll." Dann twittert sie die Koordinaten, vielleicht sind ja die Ärzte ohne Grenzen mit einem Schiff in der Nähe.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema