Schriftliches Urteil:"Warum waren wir Ihnen kein Wort wert?"

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Demonstranten halten 2018 bei einer Kundgebung vor dem Oberlandesgericht Abbildungen der NSU-Opfer. (Foto: Tobias Hase/dpa)

Angehörige der Opfer des NSU-Terrors und ihre Anwälte greifen Gericht in München an.

Von Annette Ramelsberger, München

Es ist für die Opfer wie ein Déjà vu. Bereits beim mündlichen Urteil am 11. Juli 2018 hatten die Familien der zehn Mordopfer des Nationalsozialistischen Untergrunds, kurz NSU, Stunde um Stunde darauf gewartet, dass das Gericht sich an sie wendet. Sie warteten vergebens. Dafür ermahnte Richter Manfred Götzl streng den Angehörigen eines Ermordeten, der in seinem Schmerz aufgesprungen war und das muslimische Glaubensbekenntnis rief. Der Vater wurde sofort von Polizisten umstellt. In diesem Moment musste die Witwe des in Dortmund getöteten Mehmet Kubaşık den Gerichtssaal verlassen. Sie konnte es nicht mehr ertragen.

"Dieser Tag hat sich bei mir eingebrannt", sagt Elif Kubaşık jetzt in einer Erklärung, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. "Ich konnte es nicht vergessen, mit welcher Unbarmherzigkeit Sie versucht haben, Ismail Yozgat, der seinen Sohn verloren hat, während des Urteils zum Schweigen zu bringen", wendet sie sich an das Gericht. "Dabei klagte er nur aus Schmerz. Ich habe nicht verstanden, warum wir Ihnen kein Wort wert waren, warum Sie nicht mehr als die Anzahl der Schüsse erwähnten, mit denen Mehmet ermordet worden ist. Es ist, als ob Mehmet nur eine Nummer für Sie gewesen ist."

Viele Angehörige waren nach dem Urteil wie gelähmt. Sie hatten gehofft, dass sich nun im schriftlichen Urteil wenigstens ein Satz zu ihnen findet. Doch sie fanden keinen. Kein Satz zu den Familien - auf 3025 Seiten. "Das Urteil ist sehr lang. Aber warum haben Sie dann nicht wenigstens aufgeschrieben, was diese Morde mit uns und unseren Familien angerichtet haben?", fragt Elif Kubasik.

Anwälte einer ganzen Reihe von Opferfamilien greifen das Gericht nun in ungewöhnlich scharfer Weise an. Der Rechtsstaat habe die Opfer des NSU-Terrors im Stich gelassen, schreiben die 19 Anwälte aus Berlin, Kiel, Köln, Frankfurt, Stuttgart und Hamburg. Das Gericht stehe den Betroffenen "mit hässlicher Gleichgültigkeit" und "extremer Kälte" gegenüber. Das schriftliche Urteil sei ein "Mahnmal des Versagens des Rechtsstaats, der die Angehörigen der NSU-Mordopfer über Jahre erst kriminalisierte und nun endgültig im Stich gelassen hat."

Die Anwälte beklagen, dass bei den Mordopfern nicht erwähnt werde, dass sie Familienväter waren, die Ehefrauen, Kinder, Eltern und Geschwister hinterließen. "Das Urteil hätte den Mordopfern des NSU ein Gesicht geben können", heißt es in der Erklärung. "Aber kein einziges der Worte, die die Hinterbliebenen unter großer persönlicher Anstrengung in der Hauptverhandlung im Angesicht der Angeklagten geäußert haben", sei in das Urteil aufgenommen worden.

Außerdem werde die Rolle des Verfassungsschutzes, der Polizei und der rechtsradikalen Strukturen, die den NSU unterstützt haben, totgeschwiegen. Der Thüringer Verfassungsschutz hatte die Szene in Thüringen, aus der der NSU erwuchs, über Jahre mit Steuergeld gefördert. Ein Mitarbeiter des Bundesverfassungsschutzes hatte nach Auffliegen des NSU Akten über die Rechtsradikalen in Thüringen geschreddert. Doch im gesamten Urteil findet sich weder das Wort "Bundesamt für Verfassungsschutz" noch "Thüringer Verfassungsschutz". Die Behörden hätten sich selbst die Urteilsgründe nicht besser schreiben können, erklären die Anwälte.

© SZ vom 02.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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